Ich sehe, wie du mich (nicht) siehst.

Es ist mir in den letzten Jahren in Berlin ein paar mal passiert, dass mich britische oder amerikanische Touristinnen, die mich auf der Suche nach irgendetwas ansprachen, als Einheimische einordneten und sogleich nicht mehr hörten.

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“I don’t feel welcome, I feel at home.” Foto von Daniel Blochwitz

Sie hörten wohl, dass ich Englisch mit ihnen sprach und sie hörten wohl auch, was ich ihnen sagte, und mussten gemerkt haben, dass sie, was ich ihnen sagte, gut verstanden. Und doch antworteten sie mir in einfachstem Englisch, sich stets vergewissernd, dass ich ihnen folgen konnte; im Zweifel ließen sie auf ein vermeintlich zu kompliziertes Wort noch eine einfachere Umschreibung folgen. Sie sprachen langsam, sehr laut, und deutlich.

Sie hörten nicht, was man hätte hören können: dass ich die englische Sprache seit vielen Jahren als adoptierte zweite Muttersprache spreche,
 eine Zeit lang auch als erste. Sie hörten mich nicht mehr, nachdem sie mich eingeordnet hatten, als nicht-Britin, nicht-Amerikanerin, kurz als Aus-, oder besser, ihnen fremde Inländerin – der die andere Sprache fremd sein musste.
Sie haben mich darin mit sich selbst verwechselt.

Ich bin mir sicher, obwohl ich es nicht überprüfen konnte, dass dieses Menschen waren, die nie im Leben eine zweite Sprache gelernt hatten, die bestenfalls vor vielen Jahren an einem Grundlagenkurs Französisch an der High School oder auf dem College gescheitert waren, erstarrt vor der schieren Unmöglichkeit, der unglaublichen Anmaßung, dass eine andere Sprache für jemanden, der nicht in sie hineingeboren worden war, überhaupt jemals zu begreifen sein könnte. Als ich in den 1980ern in der DDR aufwuchs, gab es so eine Ehrfurcht vor dem Englischen. „Wie man das th korrekt ausspricht, wird man, wenn man die Sprache nicht von Kind auf spricht, niemals lernen. Das schafft die erwachsene Anatomie nicht mehr. Ist der Mund einmal geformt, kann er die fremde Phonetik nicht mehr nachahmen.“

Als mich die Verhältnisse in den frühen 1990ern im neu zusammengeschlossenen Deutschland zu einer vermeintlichen Inländerin machten, erlebte ich Ähnliches, nur auf der Ebene des Sprechens, statt der Sprache.

Die Art und Weise, wie der Westen damals den Osten – quasi rückstandslos – in sich hineinzupassen gedachte, unterscheidet sich, denke ich, nur unwesentlich davon, wie  den heutigen Neuankömmlingen begegnet wird. Nur scheint mir heute eine überhebliche Forderung damit verbunden. Damals war es ein überheblicher Großmut.

Man schenkte den Ostlern, sie in den Westen und in sein Sprechen aufzunehmen. Ihre Gegenleistung war nicht, ein Sprechen aufzugeben, an dem sie möglicherweise hätten festhalten wollen. Ihre Gegenleistung war, dass sie qua ihres vermeintlich enthusiastischen Ankommens im Westen schon bewiesen hatten, dass sie ihr Sprechen abzulegen nicht nur bereit waren, sondern, anstelle eines eigenen Sprechens prinzipiell nur eine Leerstelle besaßen, oder bestenfalls etwas, über dessen fundamentale Nutzlosigkeit sie sich mit ihren Gastgebern, den Inländern, bereits im Einvernehmen befanden. Von diesen Neuankömmlingen war kein Widerstand zu erwarten, sondern ein dankbares und williges sich Einfügen.

Boris Buden beschreibt in Zone des Übergangs wie sich die Westler am 9. November 1989 an der Euphorie der Ostler beim Überqueren der Mauer berauschen. Im Glück der Ostler beim Anblick des Westens, erkannten sie einen Glauben an das Versprechen des eigenen Systems, der ihnen selbst seit langem fehlte. In den Blicken der Neuankommenden von heute erblickt der Westen keine Bewunderung, sondern Begehren: den unbedingten Willen, Dinge an sich zu reißen, von denen man selbst immer schon zu wenig hat.

Der Osten war damals gerade durch die Euphorie einer Revolution gegangen. Er hatte eine Art des Sprechens, die Jahrzehnte zuvor mit einem Versprechen einhergegangen war, mit ihrer Glaubwürdigkeit auch jeden Anschein von Natürlichkeit verlieren sehen. Zwischen den Zeilen lesen, eine doppelte Sprache sprechen waren die Soft Skills eines Ostens, in dem die Sprache und das Sprechen im Herbst 1989 schließlich zum Medium und Schauplatz einer unerhörten, kurzzeitigen Selbstermächtigung geworden waren. Mit diesen Erfahrungen kamen die Ostler in den Westen.

Bei meiner ersten Westreise erklärte ein Westverwandter, wie dreist es von den schwarzen Südafrikanern sei, sich plötzlich selber regieren zu wollen. („…gerade erst aus dem Busch gekommen“) Der Verwandte war Manager bei einem Elektronikkonzern in Braunschweig und seine Wände waren mit den Fellen und Köpfen der Keiler behangen, die er in seiner Freizeit selbst erlegt hatte. Bei meiner zweiten Westreise saßen wir bei Freunden der Familie in Düsseldorf am Fernseher und sahen zu, wie die Rumänen die Ceaușescus exekutierten. Danach gingen wir bei einem Ausflug nach Bonn am Bundestag spazieren. Alles sah exakt so aus, wie wir es aus den Westnachrichten kannten. Die dritte Reise war eine Klassenfahrt nach Bamberg, auf Einladung des Lion’s Clubs. Der Vorstand der örtlichen Sparkasse berichtete uns von den Vorzügen der firmeneigenen Sozialversorgung. Das ganze Dutzend Herren vom Vorstand war vor den Kopf gestoßen, als eine von uns fragte, warum es denn im Vorstand keine Frauen gäbe. Das war die Zeit, in der wir in der Schule mit unseren Lehrern darüber redeten, aus welchen Gründen sie in die Partei eingetreten waren, und ob es besser sei, nun konsequenterweise in selbiger zu bleiben oder aus ihr auszutreten. Und ob sie meinten, damit Schuld auf sich geladen zu haben. Und wie man mit dieser einen Umgang finden könnte. Der neue, westdeutsche Bürgermeister lud unsere Klasse zu einem Sektempfang ins Rathaus ein, zur Eröffnung einer Ausstellung, die uns auf Bildtafeln erklärte, warum rote und braune Diktatur im Grunde genau das Gleiche seien. Wir nahmen den Sekt und fuhren Paternoster. Der Westen war uns nicht fremd. Er kam uns nur befremdlich vor.

Wenn man als Fremde in etwas ankommt, dass sich als das Normale, das Natürliche setzt, weil es seine eigene Normalität niemals in Frage stellen gemusst hat, ist man im Vorteil. Man kann sehen, wie man als das Andere gesehen wird und wie dieses Anderssein beim Inländer nie das eigene Anderssein, sondern immer nur das eigene Normalsein ins Bewusstsein ruft. Nicht die Kontingenz, sondern das vollständige Einssein mit der Muttersprache. Man sieht, wie das Gegenüber einen nicht sieht, und wie das Gegenüber nicht sieht, dass man auch dieses Nicht-gesehen-Werden sehen kann, und verstehen. Für den Neuankömmling, sind die Inländer unschuldig und transparent wie Kinder. Die „Unschuld in den Gesichtern der Passanten westdeutscher Fußgänger­zonen“, hieß das in etwa bei Heiner Müller.

 

 


Dieser Text ist auf Einladung des wunderbaren Projekts „Man schenkt keinen Hund“* enstanden, das Unterrichsmaterialien der Deutschkurse für Migrant*innen auf die dort vermittelten Integrationskonzepte befragt. „Man schenkt keinen Hund“ (Christine Lemke in Kollaboration mit Scriptings) versucht über unterschiedliche Zugänge und künstlerische / theoretische Strategien die identitären Diskurse um das Konzept „Integration“ zu befragen und diese hinsichtlich ihrer Ausprägungen in der inhaltlichen, ikonographischen und pädagogischen Gestaltung der Lehrmaterialien für Integrationskurse zu untersuchen. Der Reader zum Projekt, in dem auch mein Text enthalten sein wird, erscheint im Herbst 2018.

Mehr Infos: http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/about/

 

“Das Verhängnis einer unvollendeten Revolution”

Was mich an dem Titel des Artikels von Frank Richter zunächst hat aufmerken und hoffen lassen hat, ist dass mit der Anerkennung der Nicht-Vollendung (und damit, diese als Verhängnis zu beschreiben) im Prinzip schon ein erster Schritt getan wäre. Zu sagen: es gibt aus dieser Revolution etwas Uneingelöstes, das zu besprechen wäre.

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Ich glaube durchaus, dass sich aus einem wirklichen Zurückgehen zu 1989/90, und einem Abklopfen dessen, was daraus (seltsamerweise?) immer noch relevant scheint, schon recht konkrete politische Schlüsse ziehen lassen könnten, die uns ein Stück weiter bringen würden. Und dass gleichzeitig ein solches Zurückgehen und Ernstnehmen dieser Geschichte selbst bereits jene Wirkung hätte, nach der der Autor, glaube ich, sucht, nämlich des gehört und gesehen Werdens. Insofern ist es schade, dass der Artikel (das Buch?) dann den Gedanken selbst nicht wirklich ernst nimmt, sondern stattdessen die Mythologisierung der Demokratie-Unfähigkeit des (post-)DDR-Bürgers fröhlich weiter voranschreibt. Eine Revolution sind die Ereignisse von 1989 geworden, als die “Minderheitenposition” der Bürgerbewegten von der nötigen kritischen Masse an Menschen mitgetragen bzw. angeeignet wurde. Eine Revolution wird nicht – wie es in Richters Text heißt – von “Minderheiten vollzogen” (dann wäre sie ein Putsch, ein Coup d’etat gewesen). Warum sich die Mehrheiten nach dem 9. November wieder von den Minderheiten lösten, die die Revolution als eine wirkliche politische Ermächtigung zu gestalten angetreten waren, wäre die interessantere Frage, ebenso wie die, ob und wie dieser Impuls der Revolution möglicherweise auch dort noch weiterwirkte, wo parlamentarische Mehrheitsverhältnisse dieses Weiterwirken unsichtbar machten. Vielleicht waren mit den Bürgerbewegungen nicht gleich auch alle Ideen und Impulse der Revolution abgewählt, möglicherweise lebten sie nur in Formen fort, die sich mit den Mitteln der repräsentativen Demokratie nicht abbilden ließen. Ich denke z.B. an das Fortdauern einer weit jenseits der Minderheit der Bürgerbewegungen 1989 gelebten revolutionären Anmaßung, die Formen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens selbst zu bestimmen – die z.B. in den betrieblichen Kämpfen der frühen 1990er durchaus auch immer wieder gegen die neue Ideologie der vermeintlichen wirtschaftlichen Alternativlosigkeit und der Allmacht und Weisheit des Marktes behauptet wurde. Auch diese Kämpfe waren im Osten durchaus keine Minderheitenphänomene, sie wurden vom medialen und gesellschaftlichen Mainstream nur einfach nicht oder kaum – vor allem nicht als Nachwirkungen der Revolution –wahrgenommen. Ich denke, an diesen Stellen könnte eine “Aufarbeitung” der (Nach)wendezeit produktiv werden. In Form einer Politisierung der Geschichtsschreibung: der Anwendung der revolutionären Anmaßung von 1989 auf das Heute.


Ein Kommentar zu Auszügen aus Frank Richters Buch “Hört endlich zu!”, erschienen am 9. März 2018 auf Krautreporter.de.

Empfehlung Webprojekt “Ausländer in der DDR”

“Zur deutschen Einheit am 3. Oktober wurden die bescheidenen Versuche der neuen und letzten DDR-Regierung von gezielter Einwanderung und menschenwürdigem Asyl zunächst gestoppt. Was die am Runden Tisch ins Leben gerufenen Ausländerbeauftragten, die couragierten Bürger, kritischen Publizisten, Gewerkschafter und Verbände 1990 unternommen haben, um erneute Abschottung zu verhindern, versucht dieses Projekt zu dokumentieren.

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Was ist aus den Ausländerinnen und Ausländern geworden, die wieder zurückflogen? Haben unsere Forderungen von damals die Welt von heute beeinflusst? Sind die Roma auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg im Mai 1990 und die Flüchtlinge vor Lampedusa Teil einer Geschichte der Festung Europa?

Wir möchten über die Reflexion einer Umbruchzeit den Spuren ins heute folgen.

Es ist Klaus Pritzkuleits Idee und Vermächtnis, eine Form gemeinsamen Erinnerns zu finden, die spannende kurze Umbruchzeit 1989/90 festzuhalten und die vielen Schicksale von betroffenen und engagierten Menschen nicht zu vergessen.”

Auf diese unglaublich tolle und umfassende Online-Ressource zur Geschichte der Gastarbeiter*innen in der DDR und (Nach-)wendezeit bin ich gerade in meinen Recherchen zu 1990 gestoßen, sie sei hiermit begeistert in die interessierte Runde gegeben und wärmstens empfohlen:

https://www.auslaender-in-der-ddr.com 

Winterreise: Bischofferode

F/STOP: DIE WINTERREISE: BISCHOFFERODE: “In ihrem »Moskauer Tagebuch« fragt Christa Wolf, ob es soetwas wie produktive Trauer geben könne. Gestern in Bischofferode, im Kali-Bergbau-Museum als der Bergmann Willi Nebel über die Arbeitskämpfe von 1993 erzählte,

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vom Hungerstreik der Arbeiter, der die Schließung des Werkes nicht abwenden konnte, war in jedem seiner Sätze deutlich wie stark die 24 Jahre zurückliegenden Ereignisse noch in ihm arbeiten. Wer die Geschichte der Wiedervereinigung zu verstehen sucht, sollte nach Bischofferode fahren, genauer als im Museum des Thomas-Müntzer-Kalivereins wird man sie kaum erzählt bekommen.”

Danke, F/STOP Leipzig, für diese erschütternde Konfrontation mit dem hier und allerorts noch gänzlich unbearbeiteten Gündungstrauma des wiedervereinigten Deutschlands. Danke Jan Wenzel, für den Reisebericht (and Andreas Rost für die Bilder!). Produktiv ist die Trauer ja leider vielleicht schon, die Frage wäre, wie sie auch positiv produktiv werden kann.

Was ich aber auch aus Bischofferode mitnehme: Das Ausmaß der Proteste und der Solidaritätsbewegung, die Geschwindigkeit und die akute politische Intuition, mit der die Kalikumpel und ihre Familien sich organisierten, und ihr unglaubliches Durchhaltevermögen.

Die Brutalität und Kaltschneuzigkeit, mit der in der Niederschlagung ihrer Proteste sogleich die tatsächlichen Verhältnisse der sich als Sieger der Geschichte feiernden marktwirtschaftlichen Demokratie an ihnen durchexerziert wurden, spricht von der tiefen Panik, die die Möglichkeit eines Gelingens bei der anderen Seite auslöste. Die Furcht muss groß gewesen sein, dass sich hier, aus dem Impuls der einen, gerade vergangenen Revolution, eine weitere, vielleicht noch viel grundlegendere, globalere manifestieren könnte.

Die Fotos auf der Schautafel unten wurden von protestierenden Kumpels in Berlin während einer Demo aufgenommen, von ihren Frauen über Nacht in Bischofferode entwickelt und am nächsten Tag in Berlin den Behörden vorgelegt um – erfolgreich – zu belegen, dass die einzigen gewaltsamen Provokationen der Demo von (schlecht getarnten) Zivilpolizisten ausgingen.

Schautafel im Kali-Museum mit Fotos von einer Demonstration in Berlin
Ausstellungsdetail Kali-Museum in Bischofferode
Schautafel: “Tagebuch” des Hungerstreiks im August 1993

 

Causa Holm, continued

Kommentar zu einem Artikel von Robert Ide, 4.12.17

Herr Ide, Ihre Selbstgerechtigkeit ist so beeindruckend wie erschütternd.
Der Tagesspiegel und Sie als Autor wurden nicht angegriffen, weil Sie “zuerst und intensiv die Frage thematisiert haben, ob Holm als Staatssekretär glaubwürdig ist”.

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Vielmehr wurden konkrete Formulierungen hinterfragt, die Leser*innen unvereinbar mit einem Mindestmaß an journalistischer Ethik erschienen:
Bereits in Ihrem ersten Artikel zum Thema vom 13.12.16 setzten Sie die Umsetzung des von einer demokratisch gewählten Berliner Landesregierung geschaffenen Mittels des Zweckentfremdungsverbots mit Stasimethoden gleich. Zitat: “Das Vorkaufsrecht auf Wohnhäuser, die Regulierung von Sanierungsumfang und Miethöhe in Milieuschutzgebieten sowie die Gesetzgebung gegen die Zweckentfremdung. Wenn nur genügend offizielle und inoffizielle Mitarbeiter zum verschärften Überwachen und Strafen bereit stehen, könnte so mancher in der Ferienwohnungsindustrie bald aufheulen.” http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/berlins-neuer-staatssekretaer-und-die-stasi-was-hat-andrej-holm-getan-und-was-hat-er-dazu-gesagt/14969070.html

Diese implizierte Gleichsetzung der Umsetzung eines Gesetzes mit Stasimethoden offenbart nicht nur ein recht fragwürdiges Demokratieverständnis, sondern verharmlost zudem das tatsächliche Wirken der Stasi und dessen verheerende Folgen.

Eine in Ihrem Artikel gepriesene Einsicht in eigene Fehler würde Ihnen, nicht zu letzt angesichts dieses journalistischen Fehltritts, selbst gut zu Gesicht stehen.

Auch Ihre im selben Artikel geäußerte Einschätzung, der staatstragende Antikapitalismus der DDR fände seine Fortsetzung im heutigen politischen Engagement der Mieterinitiativen beleidigt nicht nur die vielen, meist unbezahlt im Interesse der mehrheitlich zur Miete wohnenden Bewohner*innen Berlins Engagierten. Sie verunglimpft auch jene Dissident*innen, Umweltschützer- und Friedens- und Frauenbewegten, die bis 1989 unter Gefahr für Leib und Seele Widerstand gegen das SED-Regime leisteten und sich für einen Demokratisierung des DDR-Sozialismus einsetzten, nur um nach der Revolution wieder auf der falschen Seite der Macht zu landen. Nämlich in der Regel nicht in den Schreibstuben der etablierten Zeitungen.

Mit seinem Engagement beim aus dem im DDR-Widerstand entstandenen telegraph (ehemals Umweltblätter/ http://umwelt-bibliothek.de/umweltblaetter.html) suchte sich Holm nach 1990 ein Betätigungsfeld, in dem er sich durchaus auf kritische Fragen zu seiner Biographie einstellen musste. Andere haben es sich einfacher gemacht und sind im Dunstkreis der post-SED verblieben, wo es sich schon bald wieder Karriere machen ließ.

Diese Art historisch informierter Differenzierung und Kontextualisierung würde man sich von qualitätsvollem Journalismus wünschen.

In diesem Sinne sei allen, die sich für die tatsächlichen Fakten der “Causa Holm” interessieren, das auf der Seite “Wir bleiben alle” veröffentlichte FAQ empfohlen, das einigen der sich in der Berichterstattung des vergangenen Winters verselbstständigen Formulierungen und Darstellungen anhand der der vorliegenden Originaldokumente, sowie rechtlichen Einschätzungen auf den Zahn fühlt, darunter den Fragen:

– War Andrej Holm hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter?

– Hat Holm falsche Angaben gemacht?

– Hat Andrej Holm seinen Status als Offiziersschüler beim MfS im Fragebogen der HU im Jahr 2005 verschleiert?

Das FAQ findet sich unter:

http://wirbleibenalle.org/?cat=915

[Dieser Kommentar wurde am 4.12.2017 als Reaktion auf einen Artikel im Tagesspiegel geschrieben und dort in leicht geänderter Form in den Kommentarspalten geposted.]

“Der Fall Monika Haeger”

In der RBB Mediathek kann man momentan diese sensible und umsichtige Dokumentation von Peter Wensierski mit und zu seinem Interview mit der IMS Monika Haeger von 1990 anschauen. Mir scheint, dass es für diese Art Gespräche 1990 ein kurzes Zeitfenster gab, dass sich dann rasch wieder schloss, auch weil sich die Fronten verhärteten und die Narrative konsolidierten. Vielleicht ist die Ausstrahlung 27 Jahre später auch ein Zeichen dafür, dass da wieder etwas in Bewegung geraten (sein) könnte.

“Zur Verfassung” – Berliner Hefte #5

Am 23. November 2017 erscheint unsere Publikation: Zur Verfassung – Recherchen, Dokumente 1989-2017, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #5 (Elske Rosenfeld, Kerstin Meyer, Joerg Franzbecker).

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Wir freuen uns, das Heft am 

25.11.2017, 18 Uhr
im Maxim Gorki Theater/ Herbstsalon
Palais am Festungsgraben
Am Festungsgraben 1, Berlin

vorstellen zu können.

Zum Heft:

1990 galt in Ost-Berlin für ein halbes Jahr eine Verfassung, die weitreichende politische Bürgerrechte enthielt. Diese waren aus den Erfahrungen der Revolution 1989 von den Bürgerbewegungen und der Opposition am Zentralen Runden Tisch der DDR formuliert worden. Die Verankerung der erweiterten politischen Rechte in der gemeinsamen Landesverfassung scheiterte jedoch im ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhaus – einzig die Volksgesetzgebung wurde übernommen. Damit ist es in Berlin möglich, Gesetze durch Volksentscheid und ohne das Parlament direkt zu beschließen. Das gelang bisher mit den Volksentscheiden zur Offenlegung der Wasserverträge und zum Erhalt des Tempelhofer Feldes. Für letzteren stimmte im Mai 2014 eine Mehrheit in allen Bezirken. Dennoch versuchten die Regierungsparteien, das Tempelhofer Feld-Gesetz wieder zu kippen. In Reaktion darauf wurde 2016 das Volksbegehren Volksentscheid Retten eingeleitet, um die Volksgesetzgebung in der Verfassung zu stärken. Beide Vorgänge, 1989/90 und 2016, hatten zum Ziel, dass alle Berliner*innen an der Ausgestaltung der Verfassung teilhaben können. Sie bilden die Klammer für erschienene Heft.

Zur Verfassung – Recherchen, Dokumente 1989–2017 wurde von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gefördert.

Die Publikation ist die dritte von drei Berliner Heften, die im Rahmen des nGbK-Projektes Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? Beiträge zum Berliner Wahlherbst 2016 entstehen.

96 Seiten, mit einer Bildstrecke von Elske Rosenfeld aus Videostills von Klaus Freymuth
Elske Rosenfeld, Kerstin Meyer, Joerg Franzbecker (Hg.),
November 2017
7€
ISBN 978-3-946674-04-7

Erhältlich über www.bookspeopleplaces.com, www.ngbk.de und den Buchhandel 

Dokumente zu “Ostwind” erschienen

“Dabei sahen die Jahre zwischen 1990 und 1994 – ein Sonderfall war der Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter am 17. Juni 1953 gegen das SED-Regime – die wahrscheinlich größte und längste Welle von betrieblich und regional-gewerkschaftlich selbst organisierten sozialen Widerstands- und Protestaktionen seit der Novemberrevolution. Mindestens 150 ,wilde’ Streiks 1991, 200 jeweils in den Jahren 1992 und 1993,

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die stets mit anderen Protestaktionen kombiniert waren, kennzeichneten diese Jahre. Zudem waren diese Widerstandsaktionen häufig sehr radikal. Hinzu kamen drei große Tarifstreiks von DGB-Gewerkschaften. Doch diese Streiks und Betriebsbesetzungen, Autobahnblockaden, die Besetzung des Rügendamms oder des Dresdner Flughafens sind nicht in die Geschichtserzählung der Linken eingegangen.”

Zitat aus dem Vorwort von Bernd Gehrke zu der außerordentlich umfassenden und wichtigen Recherche des Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West, die jetzt auf

Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute

als PdF zum download bereit steht. 

Politisieren, nicht Pathologisieren

Zum Artikel „Die Frustration sucht ein Ventil” , FR, 14.10.17. Keine Leseempfehlung, sondern ein Einspruch gegen ein Paradebeispiel einer Psychologisierung des Politischen. Schade, denn nur andersherum, durch die Politisierung des Psychologischen, würde ein Schuh draus – gerade wenn man das mit der Stärkung der Demokratie im Osten ernst meinte.

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Was der Text macht, ist, die hier noch dazu dezidiert als nicht-bürgerlich markierte (d.h. als “anders als ich/wir” deklarierte) Wählerschaft/Sympathisant*innen der AfD zu pathologisieren, im Prinzip zu erklären, sie seinen aufgrund ihrer psychologischen Beschädigung und nichtbürgerlichen Sozialisierung nicht geeignet, sich politisch rational zu verhalten, sich also als Subjekte einer Demokratie zu qualifizieren. Um diesen Status zu erreichen müssten sie, so der Autor, zunächst umerzogen werden. (Autoritärer gehts nimmer).

Gegenvorschlag wäre: zu verstehen versuchen, ob und wie hinter den Wahlentscheidungen dieser Personen auch durchaus rationale/ nachvollziehbare Interessen und Beweggründe stecken könnten. Ob sie also eine zunächst nachvollziehbare Reaktion auf historische Verhältnisse oder Vorgänge (die Erfahrung der DDR-Diktatur und der Verheerungen der 1990er Transformationsprozesse, die unzureichende gesellschaftliche Bearbeitung von beiden) sind, und dann zu fragen, warum diese sich auf eine solche – pathologische, reaktionäre – und nicht auf eine andere Art und Weise äußern, oder vielleicht sogar unter den gegenwärtigen Umständen, mangels Alternativen fast nur so äußern können. Dann versuchen, diese äußeren Umstände entsprechend zu ändern und tatsächliche “Alternativen” zu schaffen. Et voilá da wäre sie, die Gelegenheit für unser aller politisches Engagement und Aktivierung.