»Revolutionäre Gesten« Sprache finden durch Protest und künstlerische Praxis

Ein Gespräch zwischen Elske Rosenfeld und Burak Üzümkesici

Burak Üzümkesici sprach mit Elske Rosenfeld über künstlerische Zugänge zu »revolutionären Gesten« und »militanten Bildern«, über politische Bühnen, die körperliche Erfahrung gesellschaftlicher Umbrüche und deren Scheitern.[1]

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Aus dem Englischen übersetzt von Marie Egger.

Erschien im November 2024 in: Melanie Franke (Hg.) “Selbsterzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler:innen aus der DDR”, permant Verlag

Burak Üzümkesici: Elske, in deiner künstlerischen Praxis beschäftigst du dich mit politischer Dissidenz und untersuchst, wie sich historische Ereignisse durch das, was du »revolutionäre Gesten« nennst, verkörpern. Dein künstlerisches Forschungsprojekt Archive of Gestures erkundet, wie wir uns an soziale Bewegungen und an historische Wendepunkte erinnern und ihnen Sinn zu geben versuchen. Dein Material stammt von verschiedenen historischen Ereignissen: aus den letzten Tagen der DDR 1989/90, von den Gezi-Protesten 2013 oder vom Arabischen Frühling. Du zeigst, dass es eine Grammatik für die (Körper-)Sprache solcher revolutionären Ereignisse gibt, von der wir (noch) nicht wissen, wie sie zu sprechen oder was mit dem Vokabular dieser Sprache anzufangen ist.

Auf der Berlin Biennale 2022 hast du vier ortsspezifische Installationen aus deinem Langzeitprojekt ausgestellt, an dem du seit 2013 arbeitest: In der Videoinstallation Speaking (Statements for the Future) von 2019/22 performst du Erklärungen, Manifeste und Forderungen von politischen Persönlichkeiten und Gruppen während des Aufbruchs 1989/90 in der DDR (Abb. 1). Die Videoinstallation Interrupting (A bit of a Complex Situation) von 2014 ist ein Close-Reading einer Szene aus derselben Zeit, in der eine Versammlung von Vertreter:innen des Staates und neuer politischer Gruppen der DDR am sogenannten Runden Tisch von den Geräuschen einer am Versammlungsort vorbeiziehenden Demonstration unterbrochen wird (Abb. 2 und 3). Circling (Another Round) von 2021 ist eine Videoinstallation, die zeigt, wie du den Tahrir-Platz nach dem Ende einer Protestwelle mit einer Kamera umkreist (Abb. 4 und 5). Du hast das Video spontan während eines Besuchs in Kairo im Jahr 2012 aufgenommen, man hört dich darin mit einer Freundin aus der Stadt über diesen historischen Moment – das Ende einer Revolution – sprechen. Die ortsspezifische Videoinstallation Standing Still (Standing Man/Centers) von 2021 lädt dazu ein, vor oder hinter dem »Standing Man« der Gezi-Park-Proteste in Istanbul 2013 zu stehen (Abb. 6). Was war der Ausgangspunkt für diese komplexe Arbeit, und wie wirkt das Vokabular dieser Revolutionen heute auf dich?

Elske Rosenfeld: Das Projekt begleitet mich schon lange. 2013 habe ich unter dem Titel A Vocabulary of Revolutionary Gestures meine künstlerische Forschung erstmals in einer Reihe von Gesten, Kunstwerken und Texten formalisiert. Mein Interesse an Revolutionen, insbesondere an dem Umbruch von 1989/90, liegt aber in meiner Biografie begründet. Ich habe 1989 als Schülerin an den Protesten in meiner Heimatstadt Halle teilgenommen. Diese Zeit von den ersten Demonstrationen im Oktober 1989 bis zur sogenannten deutschen Wiedervereinigung im Oktober 1990 hat mich, wie so viele, politisch nachhaltig geprägt. Ich sah mich als Teil der kollektiven Emanzipation – einer Demokratisierung von unten –, die wir damals gemeinsam erprobten. Ich nahm in der Schule und in anderen Gruppen und Zusammenhägen an Diskussionen teil, in denen besprochen wurde, wie eine gerechte, demokratische und ökologische Gesellschaft organisiert werden könnte. Umso mehr enttäuschte es mich, dass diese machtvolle Aneignung des kollektiven Lebens mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik abrupt abgeschnitten wurde. Die Übertragung der Revolution in ein konservatives und nationalistisches Projekt beendete nicht nur die Praktiken der kollektiven Gestaltung neuer politischer Formen, die ich erlebt hatte, sondern löschte diese im selben Moment auch wieder aus dem Bereich des politisch Vorstellbaren. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Erzählung dieser Revolution als Wiederherstellung der nationalen Einheit, als Triumph des Kapitalismus oder der liberalen Demokratie, und der Art, wie ich diese Revolution als Protagonistin erlebt und mitgestaltet habe, empfinde ich heute als Sprachlosigkeit.

Diese Leerstelle ist für mich aber auch ein starker Impuls für mein Denken und Schaffen. Ich nähere mich ihr durch den Begriff der Geste an – das heißt, durch Figuren, die somatische, geometrische, philosophische und affektive Aspekte der Revolution hervorheben und miteinander verbinden. Dieses Vorgehen beruht auf mehreren Beobachtungen: Zum einen zeigte sich, wann immer ich versuchte, mit anderen Protagonist:innen über die Ereignisse zu sprechen, ein gewisses Unvermögen, unsere Erfahrung, aber auch unsere damaligen Hoffnungen und Vorstellungen in Worte zu fassen. So kommt es, dass heute viele Protagonist:innen all jene Aspekte des Erlebten, die sich in der gängigen Erzählung der Ereignisse oder innerhalb unseres Verständnisses von Politik und Revolution nicht fassen lassen, als »naiv«, »utopisch«, oder »immer schon zum Scheitern verurteilt« abwerten. Gleichzeitig kommunizierten unsere Körper aber im Gespräch außerhalb der Sprache all die Dinge, die sich nicht erklären oder begründen lassen: die Aufregung über das, was damals möglich schien, die Trauer und Wut über den Verlust dieser damals kurzzeitig durchaus greifbar gewordenen, neuen politischen Möglichkeiten. In den Körpern meiner Gesprächspartner:innen sind diese Affekte noch quicklebendig, als wäre seit 1990 keine Zeit vergangen.

Einen weiteren Impuls erhielt ich ab 2011 durch die neue Welle globaler Revolutionen, angefangen mit dem Arabischen Frühling und der Occupy-Bewegung. Während ich diese Ereignisse in den Nachrichten und in den Facebook-Feeds meiner ägyptischen Freund:innen mitverfolgte, kamen meine eigenen Erfahrungen wieder hoch; ich fühlte mich – im positiven Sinn – getriggert. Ich habe damals viel mit Freund:innen aus Kairo und während der Gezi-Proteste 2013 mit Freund:innen aus Istanbul gesprochen und später auch mit Menschen, die an den Aufständen in der Ukraine und in Belarus beteiligt waren. Aus den überraschenden Resonanzen zwischen dem, was wir in verschiedenen Kontexten über Zeiten und Orte hinweg erlebt haben, versuche ich also, ein gemeinsames gestisches Vokabular zu entwickeln.

Die Gesten dieses Vokabulars sind es, die zwischen den verschiedenen historischen Ereignissen vermitteln. Sie ermöglichen es mir, über den Umbruch von 1989/90 auch anhand von Bildern aus Kairo, Istanbul oder Minsk nachzudenken. Ich sammle also in Berichten und Dokumenten solcher Ereignisse Bilder und Motive – zum Beispiel bestimmte physische, geometrische und zeitliche Figuren und körperliche Bewegungen –, die sich in den unterschiedlichen Kontexten wiederholen. Dieses Material ist der Ausgangspunkt für meine Arbeit am Archive of Gestures.

Burak Üzümkesici: Ich würde gern ein Beispiel aus diesem Archiv aufgreifen, um deine Idee von der Geste als Scharnier zwischen verschiedenen revolutionären Ereignissen zu vertiefen, die Arbeit Standing Still (Standing Man/Centers) von 2021. Das Bild einer stehenden Person kann im Kontext von Revolutionen als Ausdruck politischer Handlungsmacht gesehen werden. In den letzten drei Jahrzehnten haben wir die politische Kraft des Stillstehens immer wieder beobachten können, angefangen mit dem unbekannten »Tank Man«, der sich 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vor einen Panzer stellte, über Rachel Corrie, die sich 2003 in Gaza israelischen Streitkräften entgegenstellte, und den »Standing Man« Erdem Gündüz bei den Gezi-Protesten in Istanbul 2013 bis hin zu Vida Movaheds Kopftuchprotest 2022 im Iran. In ihrem vielgelesenen Text hat die iranische Autorin L. die stille Aktion von Vida Movahed mit den Frauen, die Videos drehten, um ihre Empörung verbal zu verbreiten, verglichen und dabei die große Wirkmacht der Zirkulation von Vidas fotografischem Bild hervorgehoben. Für sie war das Bild dieser stehenden Person »a transition from the narration of an everyday circumstance to the creation of a historic situation«.[2] L. schreibt, das Bild verkörpere den Stillstand als Versprechen, und sie erörtert, wie dieser Stillstand in die Mobilisierung von Menschen mündet.

Elske Rosenfeld: Sie spricht in ihrem Text nicht nur über das Stehenbleiben und das Anhalten der Zeit in einem Bild, sondern auch allgemein über die Beziehung zwischen Protest und Bild und über Nachahmung und Wiederholung. Aus meiner Sicht werden die Posen der iranischen Aktivist:innen durch ihren Entstehungskontext und durch ihre mediale Verbreitung zu militanten Bildern. Bei Fotos wie denen von den protestierenden iranischen Frauen, von Erdem Gündüz, Rachel Corrie oder dem »Tank Man« geht es nicht darum, die Revolte abzubilden oder zu dokumentieren, sondern darum, sie am Laufen zu halten. Dieses Phänomen des Gefrierens einer Pose zu einem militanten Bild lässt sich bei vielen Aufständen beobachten.

In meiner Arbeit untersuche ich auch, wie diese Art Bilder 1989/90 entstand und eingesetzt wurde. Das Filmmaterial vom ersten Treffen des Zentralen Runden Tischs in Ost-Berlin, das ich in meiner Arbeit Interrupting (A bit of a Complex Situation) von 2014 verwende, würde ich sogar als Produkt einer militanten Filmpraxis bezeichnen. Der unabhängige Dokumentarfilmer Klaus Freymuth war damals als Mitglied des Neuen Forums bei dem Treffen anwesend und wurde von den Beteiligten spontan gebeten, es mit seiner Kamera mitzuschneiden. Er positionierte sich und seine Kamera dann aber nicht an einem Punkt, von dem aus er eine möglichst professionelle, »neutrale« Aufnahme hätte machen können, sondern er stellte sich auf die Seite des Tisches, der er sich politisch zugehörig fühlte. Durch diese Positionierung der Kamera sind die Gesichter und Körper der Oppositionellen nicht von vorn, sondern von der Seite beziehungsweise von hinten zu sehen. Die Körper sind hintereinander aufgereiht, verdecken sich gegenseitig oder verschmelzen zu einem Körper mit mehreren Köpfen oder Gliedmaßen. Der zersplitterte und verschmolzene »kollektive Körper«, den diese Kameraposition erzeugt, ist ein Aspekt, der mich in meiner Bearbeitung interessiert hat.

Burak Üzümkesici: Ich komme noch einmal auf deine Arbeit Standing Still (Standing Man/Centers) zurück, da wir anhand ihrer gut über eine bestimmte Spannung im menschlichen Körper während politischer Aufstände sprechen können: Zwei Tage nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks in Istanbul durch die Polizei protestierte am 17. Juni 2013 der Tänzer und Choreograf Erdem Gündüz, indem er acht Stunden lang regungslos auf dem Taksim-Platz stillstand. Die Polizei wusste nicht, wie sie auf diese Art des stillen und friedlichen Protestes reagieren sollte. Man empfand es als einen – wenn auch kaum greifbaren – Angriff auf die Staatsgewalt, was noch dadurch verstärkt wurde, dass die Menschen in den folgenden Tagen auf Plätzen in der ganzen Türkei stillstanden. Deine Arbeit platzierte die Geste des duran adam, wie es auf Türkisch heißt, während der Berlin Biennale an einem ebenso zentralen wie historischen Ort, im Foyer der Akademie der Künste am Pariser Platz, sodass im Hintergrund durch die Glasfassade hindurch das Brandenburger Tor zu sehen war (Abb. 4). An einer Metallskulptur befestigt zeigten zwei Monitore Erdem Gündüz’ Oberkörper einmal von vorn und einmal von hinten – sodass Besucher:innen ihm beim Eintreten in die Ausstellung frontal ins Gesicht schauten. So entstand eine digitale Skulptur seines widerständigen Aktes. Über Kopfhörer waren Geräusche aus Videos von Gündüz’ Protest auf dem Taksim-Platz zu hören, die du mit dem Soundtrack einer Videoarbeit von Vito Acconci, Centers (1971), hinterlegt hast. Acconci steht in jenem Video 23 Minuten lang still und richtet seinen Zeigefinger auf die Kamera. Man hört, wie sein Atem dabei mit der Zeit vor Anstrengung immer lauter wird. Beide Performances, auf die sich deine Arbeit bezieht, die von Gündüz und die von Acconci, spielen mit der Beziehung zwischen Bewegung und Stillstand. Ihre Zeitlichkeit fordert unsere Vorstellungen von Fortschritt, Veränderung und Transformation heraus, die wir normalerweise mit Revolutionen verbinden. Es scheint nichts zu passieren. Die Spannung, die aus dieser enttäuschten Erwartung entsteht, scheint sich auch in dem gezeigten Körper zu verdichten, seinen Muskeln, Nerven und Gelenken. Stillstand beschreibt hier also einen Konflikt: zwischen der inneren Dynamik des Körpers und der Dynamik zwischen dem Körper und seinem Außen.

Elske Rosenfeld: Meine Arbeit mit der Geste von Erdem Gündüz unterscheidet sich von meinen anderen aus gefundenem Filmmaterial produzierten Gesten dadurch, dass sie in einen Dialog mit einem anderen Künstler beziehungsweise mit zwei anderen Künstlern tritt. Gündüz’ Geste ist sowohl ein Kunstwerk als auch eine Form des Protests. Mich interessiert, dass er eine temporäre Skulptur herstellt; eine nichtheroische Skulptur, die aus seinem lebenden Körper besteht, was sie unbeständig und verletzlich macht.

Der Ton stammt von Videoaufnahmen von Gündüz’ polizeilicher Durchsuchung. Die Polizisten berühren Gündüz am ganzen Körper, was sehr gewalttätig ist. In meiner Version wird Gündüz’ Geste dadurch, dass ich sie in eine aufrechte Metallstruktur integriere, noch ein wenig skulpturaler. Sie wird eine Art Denkmal. Gleichwohl ist sie auch hier nicht vollkommen statisch. Indem ich das Foto von Gündüz mit einer frei gehaltenen Handykamera abfilmte, versetzte ich, insofern, als meine Hand mit der Zeit immer heftiger zitterte, seinen Körper wieder in Bewegung. So wird Gündüz’ Stillstand als die Vielzahl von Mikrobewegungen erkenntlich, die er eigentlich, physiologisch betrachtet, ist: Stillstehen ist immer auch ein Vibrieren, ein Kreisen um die eigene Körpermitte.

In meiner Arbeit ist es jedoch mein Körper und nicht der von Gündüz, der zittert und der ein durchgeschütteltes und instabiles Bild erzeugt. Ich wiederhole den Minimalismus von Gündüz’ Geste aber auch dadurch, dass ich mein Eingreifen bei meinem filmischen Wiederholen seiner Geste ebenfalls minimal halte.

Auf diese Weise lädt meine Arbeit die Betrachter:innen dazu ein, ebenfalls still zu werden und während des Betrachtens zur Ruhe zu kommen. Es kann sein, dass sich die Betrachter:innen, wenn sie sich auf die Zeitlichkeit der Arbeit einlassen, auch beruhigen, um dann in der Arbeit und in sich selbst mehr wahrzunehmen. Sie könnten dann vielleicht auf die Positionierung der Monitore aufmerksam werden. In meiner Arbeit wendet Gündüz dem Brandenburger Tor den Rücken zu, was natürlich mit meinem persönlichen Bezug zu diesem Ort zu tun hat. Denn eigentlich ist es natürlich mein Rücken, der diesem Symbol der deutschen Einheit hier zugewandt ist. Die Art und Weise, wie die sogenannte Wiedervereinigung umgesetzt wurde, war natürlich das Gegenteil von dem, was ich und andere uns von dieser Revolution erhofft hatten.

Burak Üzümkesici: Es ist tatsächlich bemerkenswert, wie sehr die eigene historische Position die Erinnerung an die Vergangenheit beeinflusst. Solange Dissident:innen sich nicht aktiv darum bemühen, ihre Erinnerungen lebendig zu halten, wird die Logik der offiziellen Version der Geschichte auch in ihrem Sprechen Raum greifen. So kommt es dazu, dass alternative Vorstellungen im Rückblick als naive Utopien erscheinen. Auf diese Weise reproduzieren Menschen, die an ihren eigenen Körpern eine soziale Befreiung erfahren haben, am Ende doch unweigerlich immer wieder dominante Diskurse. Solange Revolutionen in einem binären Schema als erfolgreich oder gescheitert bewertet werden, lassen sie sich weder beschreiben noch eingehender erforschen. Und so kommt es dann auch, dass Protagonist:innen von Revolutionen ihre eigene Macht und ihre einstigen Wünsche im Nachhinein abwerten oder leugnen. In einem Artikel schreibst du Ähnliches auch über marginalisierte Kunstgeschichten: »Western understandings of art […] made not only East German art practices disappear from view, but also, and maybe more crucially, the material and discursive contexts in which their aesthetics and politics could be read.«[3]

Ereignisse wie Gezi können hingegen dazu führen, dass wir aus diesen Deutungsmustern ausbrechen und die Dinge wieder anders wahrnehmen. Das Staunen über sie rührt meiner Meinung nach daher, dass Proteste gänzlich neue Kontexte herstellen können. Sie installieren, mit Georges Didi-Huberman gesprochen, neue Bühnen, auf denen politische Äußerungen möglich werden.[4] Nachdem das Ereignis vorbei ist und die neuen Bühnen sich wieder aufgelöst haben, müssen Protagonist:innen sich also dagegen wehren, dass ihr Denken wieder in andere Logiken übereignet wird. Sie müssen ihre außergewöhnliche kollektive Erfahrung selbst rationalisieren. Denkst du, Kunst kann das ermöglichen? Und können künstlerische Praktiken wie deine womöglich die Werkzeuge dafür liefern?

Elske Rosenfeld: Du sprichst hier davon, dass die genannten Revolutionen die sinnstiftenden Kontexte, in denen ihr politischer Wert oder ihre Bedeutung besprochen werden könnten, eigentlich selbst erst hervorbringen müssten. Den jüngeren Revolutionen, mit denen ich mich beschäftige, ist gemeinsam, dass sie weder klare Wortführer:innen noch ausformulierte Visionen oder Pläne für eine postrevolutionäre Zukunft hatten. Dieser Umstand, dass es den jüngeren Protesten an dieser Art klaren Zielen fehlt, wird oft als Grund dafür angesehen, dass sie keine strukturellen Veränderungen bewirken konnten. Ich meine aber, dass die enttäuschenden Ergebnisse dieser Revolutionen nicht auf ein inneres Scheitern zurückzuführen sind, sondern eine Niederlage darstellen, dass sie, wenn man so will, besiegt wurden.[5] Damit meine ich, dass Akteur:innen der alten Eliten oder – wie im ostdeutschen Fall – der westdeutschen Konservativen einfach viel größere Möglichkeiten hatten, ihre eigene Agenda durchzusetzen, bevor der revolutionäre Prozess sich politisch und gesellschaftlich überhaupt institutionalisieren und zu neuen Strukturen verstetigen konnte. Und diese Entwicklungen – diese Umdeutung und Umlenkung, die stark von außen beeinflusst wurde – machten es dann auch unmöglich, in der Praxis ein immanentes Verständnis der eigenen Politik und ihrer Ethiken und Ziele zu entwickeln.

Das führt zu dem Ergebnis, das du beschrieben hast: Die gescheiterten Revolutionär:innen waren, da sie noch keine eigene Theorie ihres spontanen Handelns hatten entwickeln können, gezwungen, die Logik der »Sieger der Geschichte«[6] übernehmen, um der eigenen Geschichte Sinn zu geben. Kunst kann einen Raum dafür bieten, genau solche, unter einer nicht passenden Sprache verschütteten Erfahrungen wieder zu offenzulegen – Erfahrungen, die in der dominanten Geschichtsschreibung unverständlich oder unsichtbar geworden sind.

Burak Üzümkesici: Die Romanistin Kristin Ross zählt auch die Arbeit von Soziolog:innen und Historiker:innen zu den externen Faktoren, die in Narrative von Niederlagen einfließen. Sie sagt, die Soziologie »has always set itself up as the tribunal to which the real – the event – is brought to trial after the fact, to be measured, categorized, and contained«.[7]

Elske Rosenfeld: Ja, eine andere Soziologie (die dann aber vielleicht keine Soziologie im engeren Sinne mehr wäre) könnte ein großartiges Instrument sein, um Revolutionen zu verstehen. Du kennst das aus den Gezi-Park-Protesten: Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Schutz wurden dort außerhalb hierarchischer Strukturen organisiert. Für die ägyptische Revolution hat zum Beispiel Asef Bayat diese Formen der Selbstorganisation beschrieben.[8] Empirisch und konzeptionell gilt es noch besser zu verstehen, wie Revolutionen sich jenseits von Ideologien, Plänen oder erklärten Absichten im konkreten Handeln ihrer Akteur:innen entfalten. Es bedarf politischer Konzepte und Methoden, die über das marxistische Verständnis von Revolution als Systemwechsel, aber auch über jüngere poststrukturalistische Verständnisse des Politischen als bloße Unterbrechung oder Negation des Bestehenden hinausgehen. Hier könnten feministische Ansätze hilfreich sein, die die jeweils konkrete Praxis der Revolutionen betrachten, etwa von Judith Butler, Verónica Gago oder Ewa Majewska.[9] Sie haben ihre Analysen am Körper entwickelt und verstehen Revolution als etwas, das sich zwischen der Mikro- und der Makroebene der Politik ereignet: zwischen »kleinen« Handlungen der Fürsorge und des Unterhalts, die wir heute dank der Arbeit früherer Feministinnen als politisch verstehen, und dem »heroischen« Moment der Revolution. Diese Ansätze sind hilfreich, weil sie das Gewöhnliche im Außergewöhnlichen suchen und weil sie dazu motivieren, Veränderungsmöglichkeiten auch jenseits des Ausnahmemoments Revolution zu suchen. Mich interessiert in dem Sinne vor allem, wie Revolutionen sich körperlich manifestieren und wie sie als emanzipatorisches Wissen oder als emanzipatorischer Impuls auch körperlich, »unter der Sprache«, fortbestehen. Meine Arbeit zu dem Umbruch von 1989/90 kann zu solchen Überlegungen beitragen, weil offizielle Geschichte und verkörpertes Gegenwissen hier schon länger in Spannung zueinander stehen.

Burak Üzümkesici: Auch das öffentliche Erzählen der DDR-Vergangenheit konzentriert sich vornehmlich auf ihre bedrückenden Aspekte. Als ich vor einigen Jahren in Berlin einen Deutschkurs belegte, überraschte es mich, dass die DDR-Vergangenheit dargestellt wurde, als sei sie die schlimmste, repressivste, beschämendste Zeit der deutschen Geschichte gewesen. Auch in Filmen über die DDR herrscht dieses Narrativ vor. Gab es wirklich keine positiven Eindrücke und Erfahrungen? Keine Dynamik, die sich auf die Gegenwart übertragen lassen könnte, keine revolutionären Bestrebungen, keine Träume oder Wünsche, die aktuelle Debatten befruchten können? Mir scheint, als herrsche in Deutschland ein seltsames Schweigen über die DDR.

Elske Rosenfeld: Natürlich wurde das Leben in der DDR nicht nur als negativ erfahren. Die Menschen lebten, während sie sich an der widersprüchlichen Realität des Staatssozialismus rieben, komplexe, widersprüchliche und reiche Leben. Das Erinnern an die DDR ist aber auch von traumatischen Erfahrungen durchzogen, die in dem gewaltvollen und repressiven Wesen des DDR-Regimes begründet lagen – auch seiner Unfähigkeit, sich von den militaristischen und faschistischen mentalen Strukturen ihrer deutschen Vorgängerregime zu lösen. Die sogenannte Aufarbeitung der DDR beschäftigt sich vor allem, und auf eine recht einfach gestrickte Weise – mittels eines sehr reduktiven Opfer-Täter-Schemas –, mit diesem Trauma und lässt dabei wenig Raum für positive Lebenserfahrungen und die Vielfalt und Kreativität widerständiger und dissidenter Praktiken im weiteren Sinne.

Zu diesen positiven wie negativen Erfahrungen kam nach 1990 das neue Trauma der rasanten und absolut rücksichtlosen Umstrukturierung des Ostens, der Entwertung hiesiger Erfahrungen und Biografien, hinzu, das in den letzten Jahren aber immerhin als ein wichtiges ostdeutsches Thema angegangen worden ist – wobei es natürlich eigentlich ein gesamtdeutsches Thema ist. Einer jüngeren Generation von Ostdeutschen ist es gelungen, das Schweigen über diese Jahre zu brechen. Und es ist möglich geworden, von der Wiedervereinigung als gescheitert oder zumindest als teilweise gescheitert zu sprechen.

Für mich ist aber letztendlich auch das Scheitern, der Verlust der Emanzipation von 1989/90 ein Trauma, um das sich, durch die Art, wie die Ereignisse heute erinnert beziehungsweise eben nicht erinnert werden, ein weiteres, schmerzhaftes Schweigen hüllt. Für mich hat diese Sprachlosigkeit zum einen mit einer krassen, aber kaum thematisierten Herabsetzung der Ostdeutschen zu tun, die sich genau im Moment der »Wiedervereinigung« vollzog: Am 3. Oktober 1990 wurden die Träger:innen der Revolution in der DDR, die sich in den Vormonaten gerade erst in einer gewaltfreien, von unten organisierten Massenbewegung von einem autoritären Regime befreit und dabei ganz eigene demokratische Formen erfunden hatten, nun von den neuen Oberen – den konservativen westdeutschen Eliten – im Nachhinein zu Kindern erklärt, denen man die Demokratie erst noch beibringen müsse. Aus dem ostdeutschen demokratischen Vorsprung wurde über Nacht ein demokratisches Defizit. Durch die narrative Entwertung der revolutionären Begehren schämten sich die Leute nun für ihre Hoffnungen und ihren Versuch, ihr Leben gemeinsam und auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen umzugestalten.

Gleichzeitig folgte auf ihre radikale Selbstermächtigung nun noch dazu die absolute Entmächtigung in Form der neoliberalen Überformung des Ostens und der Behauptung, dass diese alternativlos sei. Man schob dem ostdeutschen demokratischen Gestaltungswillen also umgehend mit der funktionalen Vernunft des »ökonomischen Sachzwangs« wieder einen Riegel vor.

Mit dem Klischee des »Jammerossis« wurde die Enttäuschung, die viele Bürger:innen dementsprechend nach der Wiedervereinigung empfanden, schnell entpolitisiert und pathologisiert. Fast zwei Jahrzehnte ostdeutscher Proteste – gegen die Massenprivatisierungen der frühen 1990er-Jahre sowie gegen die Sozialkürzungen der frühen 2000er-Jahre – wurden unter dieser Trope als politisch irrelevant, als pures Gejammer abgetan. Bitter ist vor allem, dass man die ostdeutschen Unmutsäußerungen erst ernst zu nehmen begann, als sie ab 2014 schließlich vermehrt und offensiver unter rechtem Vorzeichen stattfanden.

Auch, um dieser rechten Aneignung ostdeutschen Dissenses entgegenzutreten, ist eine neue Erzählung der Revolution von 1989/90 und ihres Nachwirkens, eine Anerkennung ihres uneingelösten emanzipatorischen Versprechens nötig.

Die Art, wie wir vergangene politische Bewegungen erzählen, hat aber auch über den deutschen Kontext hinaus einen großen Einfluss darauf, was wir uns heute als politisch möglich vorstellen können. Erfahrungen wie die von 1989/90 und ihr kollektives Erinnern haben enorme Auswirkungen auf das Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeit, ihre Zukunft selbst zu gestalten beziehungsweise, wenn sie abgewertet werden, auf ihre Empfänglichkeit für autoritäre Gegenangebote. In diesem Sinne sehe ich die Arbeit an einer (Gegen-)Narration der emanzipatorischen Projekte, die wir in der DDR und in der Türkei erlebt haben, als weit mehr als pure Geschichtsschreibung an. Sie ist ein Wirkungsfeld, in dem wir unsere gegenwärtige Handlungsfähigkeit und unseren Vorstellungshorizont entweder einschränken und verringern oder stärken und erweitern können.

 

Kurzbiografien:

  1. ELSKE ROSENFELD forscht als Künstlerin, Autorin und Kulturarbeiterin zur Geschichte der Dissidenz in Osteuropa und zu den Ereignissen von 1989/90. In ihrem aktuellen künstlerischen Forschungsprojekt »Archive of Gestures« untersucht sie den Körper als Austragungsort und Archiv politischer Ereignisse. Seit 2018 ist sie Mitglied im Kuratorium der Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin, die sich der Förderung der Ideen der Bürgerbewegungen der DDR widmet. 2019 kokuratierte sie das Festival Palast der Republik am Haus der Berliner Festspiele.

BURAK ÜZÜMKESICI, M. A., studierte Kunstgeschichte an der Technischen Universität Istanbul und ist derzeit Doktorand in Philosophie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politischer Aktionsformen, künstlerischer Praxis, Mimesis-Theorie, Medien und Vermittlung.

 

[1] Eine Version dieses Textes wurde 2023 auf der feministischen Website 5Harfliler veröffentlicht: »Doğu Almanya’dan Gezi’ye Jestler ve Toplumsal Mücadelelerin Dili. Elske Rosenfeld ile Söyleşi [Gesten und die Sprache sozialer Kämpfe von Ostdeutschland bis Gezi. Ein Interview (von Burak Üzümkesici) mit Elske Rosenfeld]«, 17.4.2023, https://www.5harfliler.com/dogu-almanyadan-geziye-jestler-ve-toplumsal-mucadelelerin-dili-elske-rosenfeld-ile-soylesi/ (15.2.2024).

[2] L., »Figuring a Women’s Revolution. Bodies Interacting with their Images«, übersetzt von Alireza Doostdar, Jadaliyya, 5.10.2022, https://www.jadaliyya.com/Details/44479 (15.2.2024).

[3] Elske Rosenfeld, »Signals, Gestures, Collective Bodies. Uncovering the Dissident Feminism of Gabriele Stötzer’s Art«, Dissidencies, 6.10.2022, http://dissidencies.net/signals-gestures-collective-bodies/ (15.2.2024).

[4] Vgl. Georges Didi-Huberman, »Conflicts of Gestures, Conflicts of Images«, in: The Nordic Journal of Aesthetics, Bd. 27, Heft 55/56, 2018, S. 11, https://doi.org/10.7146/nja.v27i55-56.110720 (15.2.2024).

[5] Vgl. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017.

[6] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), Frankfurt am Main 1974.

[7] Kristin Ross, May ’68 and Its Afterlives, Chicago 2002, S. 4.

[8] Asef Bayat, Revolutionary Life. The Everyday of the Arab Spring, Cambridge (Mass.) 2021.

[9] Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (2015), übersetzt von Frank Born, Berlin 2016; Verónica Gago, Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern (2019), übersetzt von Katja Rameil, Münster 2021; Ewa Majewska, Feminist Antifascism. Counterpublics of the Common, London 2021.