Wackeliges Gedenken

In diesem im Freitag erschienenen Text gehe ich der Frage nach, wie die Geschichte der von den Ostdeutschen so gewollten Einheit derart wirkmächtig werden konnte, dass sie nicht nur von ihren Profiteuren (und maßgeblichen Autoren), den westdeutschen Konservativen, sondern auch von vielen, denen sie im Prinzip schadet – den Ostdeutschen und den Linken Ost wie West – bis heute quasi unhinterfragt angenommen wird. Ein Vorschlag, diese Geschichte ab 2020 noch einmal anders zu schreiben.

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“Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr.“ So steht es auf einem Banner einer Demonstration in Leipzig im Winter 1990. Die Behauptung der Alternativlosigkeit der deutschen Einheit, von Währungsunion und Treuhand-Privatisierungen ruht auf Bildern wie diesen – Zeugnissen eines scheinbar eindeutigen Willens der DDR-Bevölkerung. 2014 nahm die hörenswerte Deutschlandfunk-Reihe „Deutsche Rufe“ das Banner unter die Lupe und fragte, warum es statt an den DDR-üblichen Holzlatten an Bambusstäben befestigt ist. War der Spruch eine westdeutsche Erfindung? Wurde er, qua diesem Banner, unter das demonstrierende Ost-Volk gebracht, wie später die „Wir sind das Volk“-Aufkleber der Bundes-CDU? Gegen eine Geschichte der Wiedervereinigung als glückliches Ende der 89-er Revolution war so ein Bambusstab im Feierjahr 2014 ein reichlich dünnes Argument.

Im Feierzyklus des letzten Jahres war das Gedenken schon wackeliger. Im Nachgang des lautstarken Rechtsdrifts ostdeutscher Unmutsäußerungen – und leider erst dann – ist ab 2014 ein längst überfälliger Prozess der Aufarbeitung der sozialen und biografischen Verheerungen und kulturellen Überschreibungen der Nachwendejahre in Gang gekommen, einschließlich der millionenfachen Abwanderung von Ost nach West, nicht trotz, sondern wegen der Währungsunion. 2019 haben sich zu den kritischen Stimmen einer neuen Generation jüngerer Historikerinnen, Journalistinnen und Aktivistinnen auch endlich die bislang fehlenden Perspektiven von Schwarzen Ostdeutschen, LGBTI, Vertragsarbeiterinnen, Feministinnen in der DDR gesellt.

Ausweitung des Erinnerns

Debattenbeiträge bislang wenig gehörter Protagonisten der 89-er Revolution fordern deren Erzählung als zwangsläufiger – und glücklicher – Werdegang von Mauerfall zu Wiedervereinigung heraus. Als der DDR-Oppositionelle und Verleger Klaus Wolfram die Entwicklung desselben Jahres in einer Rede in der Akademie der Künste als wenig feiernswerte Wandlung einer „ostdeutschen Generalaussprache“ in ein „westdeutsches Selbstgespräch“ über den Osten beschrieb, war die Aufregung groß. In Reaktionen auf seinen Beitrag wurden erneut bewährte Figuren der (Nach)Wende-Geschichtsschreibung bemüht. Doch gerade das Bild des „Jammerossis“ bedarf, um zu funktionieren, genau jene Geschichte einer so und nicht anders gewollten Einheit – und daher unverständlichen ostdeutschen Enttäuschung –, die Wolframs Einwurf hinterfragt. Auch die Demokratieunfähigkeit der Ostler lässt sich erst dann behaupten, wenn 89/90 als die radikale demokratische Selbstermächtigung, die dieses Ereignis eben auch war, aus dem kollektiven Erinnern verschwunden ist. Das ist die Geschichte der Runden Tische, Bürgerkomitees, der spontan gegründeten Räte in Städten, Betrieben, ja selbst in Gefängnissen; der hier entwickelten Vorschläge für eine ökologisch und sozial ausgerichtete Wirtschaft, der Experimente mit Eigentumsformen z.B. von Wohnraum oder Betrieben, oder einer Sozialcharta, die zunächst eine reformierte DDR, dann den kommenden gesamtdeutschen Sozialstaat gerechter, ökologischer und feministischer als den westdeutschen gestalten wollte. Eine Geschichte die, wenn nicht gänzlich vergessen, dann doch abgetan wird und wurde, als Fantastereien einer kleinen Minderheit bürgerbewegter Utopisten, die 1990 den vernünftigeren Wünschen der Mehrheit nach D-Mark und Einheit gewichen sind.

Genau diese Austragung der radikaldemokratischen, ökologischen, sozialen, feministischen, antimilitaristischen und, ja, auch anti-nationalistischen Aspekte der Revolution von 89/90 hat es ermöglicht, dass sich deren unvollendete Geschichte 2019 von einer rechten „Alternative für Deutschland“ als Wahlkampfmittel für eine rassistische, antifeministische und antidemokratische Agenda aneignen lassen hat. Ein alternatives Erinnern an 1989 könnte dieser rechten Besitznahme entgegentreten, indem es die Ereignisse als sehr konkrete emanzipatorische, ja linke, Erfahrung inhaltlich ausfüllt und auf Anschlüsse ins heute prüft. Warum hat es eine solche andere Erzählung, trotz der begrüßenswerten personellen Ausweitung des DDR-Erinnerns, bis heute so schwer?

Die Behauptung der genau so gewollten Vollendung der Revolution in der deutschen Einheit ruht auf den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990. 48 Prozent der Wählerinnen gaben an diesem Tag ihre Stimme der aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch zusammengeschlossenen Allianz für Deutschland, die sodann den von westdeutschen Konservativen und Marktliberalen bevorzugten raschen und möglichst bedingungslosen Anschluss der DDR an den Geltungsbereich des Grundgesetzes auf den Weg brachte. Die Wahlen werden bis heute als ein Referendum zur deutschen Einheit gewertet, in welchem sich, wie es oft heißt, „die Mehrheit“, oder die „DDR-Bevölkerung“ als Ganze von den Ideen der Bürgerbewegungen trennte, und für D-Mark und schnellstmögliche Einheit entschied. Nun sind 48% Allianz-Wählerinnen schon rechnerische keine Mehrheit gegenüber den 52% der Wählerinnen anderer Wahllisten. Es gibt aber auch gute Gründe, die Gleichsetzung „Wahlergebnis = Volksentscheid zur Einheit“ grundsätzlicher zu hinterfragen. Denn obwohl die Stimmenmehrheit der Allianz von der neuen DDR-Regierung als prinzipielle Einwilligung der Wähler in alle ihrer darauffolgenden Sachentscheidungen herangezogen wurde, ergaben zeitgleiche Meinungsumfragen zu konkreten Fragen, z.B. zu einer neuen DDR-Verfassung, durchaus deutlich abweichende Meinungsbilder. Von einer Einheit nach DDR-„Volkes Willen“ lässt sich auch insofern nicht sprechen, als die Bundesregierung in den Verhandlungen fast alle aus der Revolution geerbten sozialen und ökologischen Vorschläge dieser gewählten DDR-Regierung ablehnte. Deren „idealistischer Grundton“ – wie es in einer internen Notiz heißt – kam beim Kanzleramt nicht gut an.

Wachsende Unzufriedenheit

Noch interessanter wäre zu fragen, welche Vorstellungen eines kommenden vereinten Deutschlands sich überhaupt mit den Entscheidungen der Wählerinnen im März verbunden hatten. „Ein einiges Deutschland mit größter sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit. Ein einiges Deutschland, in dem Volkseigentum an Produktionsmitteln eine wirtschaftliche Größe im wahrsten Sinne des Wortes wird,“ forderten im Januar 1990 Belegschafter der Kokerei des VEB BV Lauchhammer. Eine rasch wachsende Unzufriedenheit der (post-)DDR-Bevölkerung lässt sich auch an der steigenden Anzahl von Streiks und Protesten im Frühjahr und Sommer 1990 ablesen, die sich zu einer massiven Bewegung ausweiten sollte.

Dass diese massiven und fortdauernden demokratischen Proteste bis heute weder wirklich Beachtung gefunden haben, noch an dem Bild der „demokratieunfähigen Ostdeutschen“ kratzen konnten, ist ebenfalls eine Folge der schon erwähnten zirkulären Geschichtsschreibung: Wer behauptet, das Aufbegehren von 1989/90 habe – die kleine Gruppe bürgerbewegter Utopisten ausgenommen – allein auf ein Erlangen von Reisefreiheit, Demokratie und Meinungsfreiheit bestehender westlicher Ausprägung und eine Teilhabe am bundesdeutschen Konsum und Wohlstand abgezielt, wird in den Protesten der ostdeutschen Arbeiterinnen keine Fortsetzung eines revolutionären Impulses erkennen können. Die Proteste sind entsprechend als Reaktionen auf einen so bedauerlichen wie unvermeidlichen Rückbau überflüssiger Arbeitsplätze im Osten abgetan worden. Die wenigen verfügbaren zeitgenössischen und aktuellen Befragungen von Beteiligten zeigen aber, dass die betrieblichen Proteste der 90er Jahre auch immer von einem tief empfundenen, im Herbst und Winter 89/90 erlernten Anspruch auf betriebliche Mitbestimmung angetrieben wurden. Mit ihrer Forderung nach Selbstbestimmung hatte die Handvoll Bürgerbewegter eine neues demokratisches Selbstverständnis losgetreten, dessen Nachwirken in alle Bevölkerungsschichten hinein sie selbst weder kontrollieren, noch in voller Konsequenz (an)erkennen konnte. Die Inhalte, die Sprache, die Ikonographie der betrieblichen Protestbewegung der frühen 90er legen den Schluss nahe, dass die revolutionäre Anmaßung des Herbstes 89 – sich endlich selbst vertreten zu wollen – tatsächlich erst 1993 mit den Kämpfen in Bischofferode und anderswo niedergeschlagen wurden.

Die Bürgerbewegten der ersten Stunde, darunter Klaus Wolfram und Bärbel Bohley, waren in Bischofferode noch einmal dabei. Auch ihr Kampf hatte im Oktober 1990 nicht aufgehört. Stellvertretend für viele sei hier die Geschichte von Ingrid Köppe erzählt, einer Kollegin Klaus Wolframs vom Runden Tisch, später eine von acht Vertreterinnen der Bürgerbewegungen im ersten gesamtdeutschen Bundestag. Köppe machte sich dort für Abschaffung der bundesdeutschen Nachrichtendienste stark und stimmte gegen die Verschärfung des Asylrechts. Unzufrieden mit den Kürzungen eines von ihr verfassten Untersuchungsberichts zur SED-Devisenbeschaffung, veröffentlichte sie einen Bericht zu westdeutschen Verwicklungen. Als der 1994, trotz seiner Einstufung als geheim, öffentlich wurde, leitete man ein Verfahren gegen sie ein. Köppe lehnte in Folge das Bundesverdienstkreuz ab und zog sich aus der öffentlichen Debatte zurück. Ingrid Köppe begann ihre Aufarbeitung der Aufarbeitung am eigenen Leibe zweieinhalb Jahrzehnte zu früh. Sind wir 2020 so weit?

Trau keinem über 45.

Gespräch zu einem Interview mit Wolfgang Engler; Auszüge aus einer Diskussion auf Facebook, 17. Juni 2019:

Elske Rosenfeld: Wolfgang Engler in der LVZ vom 1.6.2019: “Ich hatte eine ganze Reihe von Gesprächen, in Eisenhüttenstadt, Cottbus, Magdeburg,

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wo etliche Leute gesagt haben: ‘Lange haben wir unserer Enttäuschung zurückgehalten, diese große Kränkung in den frühen 90ern, dass wir zwar politische Rechte erobert haben, aber in unserem elementaren Lebensverhältnissen einen Bestimmungsverlust durch den Verlust der Arbeit erlitten haben. Lange haben wir unseren Protest erst der PDS, dann der Linkspartei anvertraut, aber wirklich durchgedrungen ist das erst, als wir einen Schritt weiter gegangen sind.’
Als sie rechts gewählt haben.
Ja. Mit einem Mal kommen die Politiker, kommen Journalisten in die ostdeutsche Provinz. Wissenschaftler kommen in Gruppen, um die Mentalität zu erforschen. Und da sagen die Menschen: ‘Jetzt haben wir die Aufmerksamkeit, die uns lange versagt geblieben ist, jetzt stehen wir im Mittelpunkt des Interesses, jetzt kommen die Probleme auf die Tagesordnung. Das war ungefähr das, was wir wollten.“ Rache ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber es gibt so einen Selbstbestätigungseffekt.’”

BBB: “So unerfreulich die Anlässe sein mögen mit NSU-Komplex und Pegida und dem Aufschwung der AfD, haben sie doch eine Repolitisierung der Gesamtgesellschaft ausgelöst.” Wie bitte – unerfreulich? Nur mal die Fakten Herr Engler: Der Nationalsozialistische Untergrund ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) und 15 Raubüberfälle. (Quelle: Wikipedia) Vielleicht ist ja dies das eigentliche Problem solche “Anlässe” als “unerfreulich” zu betiteln.

Elske Rosenfeld: Ja, man würde sich eine angemessenere Wortwahl wünschen.

S: Sehr schwieriges Interview. Den “NSU” als unerfreulich zu bezeichnen, nachdem kurz zuvor Walter Lübcke von einem rechtsradikalen Täter, der sich offenbar in den neunziger Jahren radikalisiert hat, ermordet wurde, ist total daneben. Das ist genau die Verharmlosung des Rechtsextremismus, die ich seit Jahrzehnten im Osten erlebe. In den neunziger Jahren von Sozialarbeitern, Lehrern, Politikern. In Brandenburg. Ich glaube auch nicht an die These der Repolitisierung. Die AfD appelliert an niedere Instinkte, Hass, Rache, Zorn. Da ist nichts konstruktiv.

Elske Rosenfeld: Das stimmt absolut – siehe oben. Ich fand auch schon einige von Englers Aussagen in dem Interview mit Jana Hensel vor paar Monaten schwierig. Ich fand nicht den Artikel an sich, sondern das Zitat, das ich oben gepostet habe, dennoch wichtig. Ich glaube, es bringt einiges auf den Punkt. Ich finde es frappierend, wie wenig die großen Protestwellen im Osten in den 90ern und 2000ern (die interessieren mich persönlich mehr als das PDS-wählen!) ins öffentliche Bewusstsein, auch in ein linkes Bewusstsein vorgedrungen sind. Da war der Protest nämlich ABSOLUT konstruktiv und richtete sich auch an die absolut richtigen Adressaten. Nur wurde das weder wahrgenommen, noch wertgeschätzt/unterstützt, noch hatte es irgendwelche nennenswerten politischen Konsequenzen. Ich bin angesichts dieser Ost-Protestgeschichte ab 1989 ehrlich gesagt fassungslos, wenn der Rechtsruck im Osten jedes Mal wieder mit einem demokratischen Defizit / Unvermögen /Desinteresse der Ostdeutschen begründet wird. Ich bin überzeugt, dass man den Rechtsruck im Osten nicht verstehen wird, wenn man sich nicht diese Aufmerksamkeitsökonomien des Mainstreams aber und vor allem auch innerhalb der deutschen Linken anschaut (die den Mainstream an der Stelle auf frappierende Weise 1:1 kopieren, siehe z.B. Zonengabi) – und das pure Desinteresse, dass hier 30 Jahre lange gegenüber Ost-“Befindlichkeiten” gezeigt wurde, und das bis heute noch dazu absolut salonfähig ist. Das muss man unbedingt besprechen (und ändern). Das ist logischerweise nicht über die AfD, sondern nur gegen sie zu machen. Aber in dieser Gegnerschaft könnten sich schon Energien freisetzen, die der Debatte bislang leider fehlten.

Dass Ostbefindlichkeiten erst mit dem Aufstieg von Pegida und AfD Aufmerksamkeit bekommen (wie in dem Zitat beschrieben) ist ja auch kein Verdienst der AfD, sondern ein Zeichen für das Versagen eben dieser linken und medialen Aufmerksamkeitsökonomien. Das finde ich sehr, sehr bitter.

PS: Danke, S., für die Einladung zu dieser Präzisierung meines postings. Ich hatte eh ein komisches Gefühl, den link zu dem Engler unkommentiert zu posten. Nun ist der Kommentar dazu endlich auch da.

S: Danke für die Präzisierung. Es gab Proteste. Aber bis auf Bischofferode ist fast alles vergessen. Schaffte es auch nie in die Tagesschau, wie es Ost Themen kaum in die großen Medien schafften. Zur Wahrheit gehört aber auch: wenn man versucht hat, vor Ort (Eisenhüttenstadt) über die Erlebnisse und Erfahrungen wurde und wird man abgeblockt. Diese Generation 45 plus holt man jetzt auch nicht mit Quoten oder historische Aufarbeitung zurück. Das muss man für die Jungen machen.

Elske Rosenfeld: Ich habe schon Leute aus der älteren Generation – z.b. in Bischofferode – getroffen, die einen großen Redebedarf zu diesen Dingen haben. Auch zur Treuhand scheint mit der Redebedarf sehr groß. Ich glaube nicht, dass man alle Menschen aus dieser Generation abschreiben kann, soll, muss. Vor allem, weil es ja bei weitem nicht nur AfD-Wählerinnen unter ihnen gibt, sondern auch andere Leute, die diesen Frust und diese Enttäuschungen mit sich rum tragen und mit sich selber ausmachen. Die im übrigen oft auch in der Umbruchsphase und während der Proteste Großes und Wichtiges geleistet haben, was überhaupt nicht gewürdigt wird. Ich finde es essentiell, dass man diese Dinge mit diesen Betroffenen/Zeitzeugen bespricht und aufarbeitet. Anders geht es ja nicht. Die Jungen haben dabei eine Rolle zu spielen, ja, und sie werden diejenigen sein, die neue emanzipatorische Arbeitsweisen aus diesen Erkenntnissen stricken können. Die Protestwellen der 90er sind ja auch ein riesiger Erfahrungsschatz für linke Politiken, der aktuell einfach brach liegt.

Ps: 45 plus? Das sind wir doch selber schon (fast?), liebe S.

S: Genau, 45, so alt werde ich auch bald sein. Und deshalb weiß ich ja, wovon ich rede. Ich bin mit meinem Buch sehr viel unterwegs gewesen, lange bevor es AfD und Co. im Osten gab. Lange bevor sich die breite Masse für die Nachwendezeit interessierte. Die depressive Stimmung war schon damals da. Nicht überall, nicht bei allen. Es gibt ja auch wahnsinnig erfolgreiche Ostdeutsche, die die Chancen genutzt haben. Diesen harten resignativen Kern, der sich in denen neunziger Jahren entwickelte und der jetzt AfD wählt, den erreicht man nicht. Das meinte ich. Und ganz ehrlich: Denkt ihr wirklich, wenn Petra Köpping noch länger durch die Lande zieht mit ihrem Opfer-Ansatz, dann wählen mehr Leute SPD?

Elske Rosenfeld: Die Resignation hat halt Gründe. Und die gilt es aufzuarbeiten. Ich finde das an sich wichtig, ohne schon zu wissen, welche politischen Effekte das zeitigen kann und ob dadurch ein oder 200.000 AfD-Wähler zurückgeholt werden können oder nicht. Eben auch, weil da auch eine emanzipatorische Geschichte und Lebensleistungen dahinter stecken, die uns sonst verloren gehen. Ich habe das Zitat oben aber auch gepostet, weil ich durchaus der Meinung bin, dass die Zuwendung zur AfD bei einem Teil der Leute Gründe hat, die politisch verhandelt werden müssen, auch weil sie sich sonst fortsetzen. Wenn eine Person, wie die oben zitierte, ihren politischen Werdegang von links nach rechts so deutlich begründet, ist das doch keine Resignation sondern eine explizite Aufforderung zur Auseinandersetzung. Mich wundert es ein bisschen, dass du als Journalistin, und Protagonistin der Aufarbeitungszene, das so rigoros ablehnst.

Wenn jetzt eine jüngere Generation Ostdeutscher, die die Sprache und Mittel hat sich und ostdeutschen Themen medial Präsenz zu verschaffen, die ältere Generation, die diese ganzen Kämpfe ausgestanden und Abwertungserfahrungen gemacht hat, abschreibt, oder – wie andernorts gelesen – als nicht zu verstehen exotisiert, wiederholen wir jetzt intergenerationell genau den West>Ost-Move, der die Leute so frustriert hat, und ja, teilweise auch den Rechten in die Arme getrieben hat. Ich fände das wirklich problematisch, und ich glaube nicht, dass wir den Osten irgendwie auch nur einen Zentimeter weiter bringen, wenn wir das nicht (neben den vielen anderen Dingen, die zu tun wären) auch tun. Zwischen Leuten, die resigniert haben und Leuten die “die Chancen genutzt haben” gibt es ja dann auch noch ein ziemlich weites Feld an Nach-Wende Lebenserfahrungen.

Wir treffen auf die Resignation, wenn sie sich verfestigt hat, und kennen in der Regel ihre Vorgeschichte nicht. Ich würde hier dazu tendieren weiterzufragen, auch wenn uns sicher oft der Tonfall nicht gefällt. Der Jammerossi ist auch gemacht worden.

Presseshow des Horrors…

…mit ein paar Lichtblicken

Im Nachgang zu “Chemnitz” formuliert eine sich formierende intellektuelle (?) ostdeutsche Rechte die, tatsächlich lange überfällige, narrative Sichtbarwerdung des Ostens als völkisch-nationale.

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Ein Klaus-Rüdiger Mai (dissidentische oder revolutionäre Credentials unbekannt) konstruiert in der NZZ  den Osten als “Avantgarde” eines solchen Nationalismus, (einer – noch besser – “Moderne”), der sich aber als ein ziemlich post-stukturalistischer, konstruierter und schließlich tautologischer herausstellt. Kein deutscher, sondern ein ostdeutscher, keiner, der sich nicht über Blut und Herkunft konstitutiert, sondern über eine bestimmte, im Osten erlernte Kultur – des Protestes, des Misstrauens gegenüber den Oberen, des Anti-Kosmopoliten, des bodenständigen, etc. Wer linksliberal ist und Kosmopolit, ist schlicht und ergreifend kein Ossi.
“Frau Merkel ist keine Ostdeutsche.”

Frau Lengsfeld argumentiert auf ihrem Blog ähnlich und attestiert den Ostdeutschen eine Tradition des Widerstands gegen “zwei sozialistische Diktaturen”. Der Rechtsdrift dieser Gruppe ehemaliger Bürgerbewegter beginnt mir auf eine Weise noch einmal anders einzuleuchten, schließlich ist ihre Lebensleistung (die vor und bis 1989) in einer solchen Erzählung um einiges besser aufgehoben, als im von Mitte/links her vielbemühten Klischee der demokratieunfähigen Ossis. Welches letztere sich ja für viele Ostdeutsche vermutlich weder mit den eigenen Erfahrungen von 1989/90 deckt, noch mit den Erinnerungen an die von vielen mit dem eigenen Leibe ausgetragenen massiven betrieblichen und sozialen Proteste der 90er und 00-er Jahre.

Nun muss ich mit Entsetzen konstatieren: die Rechte war schneller. Und schlauer. Vielleicht einfach näher dran am Puls der sich aufstauender Frustrationen. Vielleicht auch einfach skrupelloser in dem ihr eigenen Opportunismus.

Um so wichtiger, jetzt die Aufmerksamkeit, oder sagen wir, die kurzzeitige (?) Aufhebung eines fortwährenden Desinteresses, zu nutzen, um die Demokratiegeschichte und die Protesttradition des Ostens anders und von links zu erzählen – nebenbei auch: zu leben.

Peter Richter macht das in der Süddeutschen Zeitung, finde ich, sehr schön und fast beiläufig, und auch Frank Richter, über dessen Hochalten des Klischees der Demokratieunfähigkeit der Ostdeutschen ich mich noch vor wenigen Wochen geärgert habe, schafft es, ebenfalls in der Süddeutschen, ganz wunderbar den Grad zwischen Verstehen und Entschuldigen/ Verharmlosen zu navigieren. Der Zeitschrift monopol reicht Chemnitz gar endlich zum Anlass, auch mal die Subkulturen der ostdeutschen Provinz zu würdigen.

Wenn also im Zuge von Pegida, AfD, “Chemitz”, sich Raum öffnet in der Aufmerksamkeit der Mitte für eine Sichtbarkeit anderer biografischer und politischer Erfahrungen im Osten und wenn dieser auch von links her gefüllt werden kann, auch mit Erzählungen politischen Handelns, die nicht deckungsgleich sind, mit denen aus dem Westen, dann ist hier vielleicht auch noch Raum für eine Bewegung ins Positive.

Doku zu Bischofferode

Was mich letzten November bei unserer Winterreise nach Bischofferode so beeindruckt hat, wird in dieser tatsächlich sehr guten mdr-Reportage noch einmal auf erschütternde Weise dokumentiert – und zwar nicht nur die absolut brutale Banalität der Logik (des Phantasmas) des Marktes, an der die gen Westen gerichteten Hoffnungen der Eichsfelder Kali-Bergleute schnell zerschellten, sondern auch das ungeheure und am eignen Leib erarbeitet Wissen dieser ostdeutschen wie anderer osteuropäischer Transformations-Generationen, die binnen weniger Wochen und Monate die Mechanismen des neuen Systems erlernten, also aneigneten, um sich in ihnen und dann auch gleich schon gegen sie zu ermächtigen. Oder es zumindest zu versuchen.
Unbedingt anschauen!

Ich sehe, wie du mich (nicht) siehst.

Es ist mir in den letzten Jahren in Berlin ein paar mal passiert, dass mich britische oder amerikanische Touristinnen, die mich auf der Suche nach irgendetwas ansprachen, als Einheimische einordneten und sogleich nicht mehr hörten.

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“I don’t feel welcome, I feel at home.” Foto von Daniel Blochwitz

Sie hörten wohl, dass ich Englisch mit ihnen sprach und sie hörten wohl auch, was ich ihnen sagte, und mussten gemerkt haben, dass sie, was ich ihnen sagte, gut verstanden. Und doch antworteten sie mir in einfachstem Englisch, sich stets vergewissernd, dass ich ihnen folgen konnte; im Zweifel ließen sie auf ein vermeintlich zu kompliziertes Wort noch eine einfachere Umschreibung folgen. Sie sprachen langsam, sehr laut, und deutlich.

Sie hörten nicht, was man hätte hören können: dass ich die englische Sprache seit vielen Jahren als adoptierte zweite Muttersprache spreche,
 eine Zeit lang auch als erste. Sie hörten mich nicht mehr, nachdem sie mich eingeordnet hatten, als nicht-Britin, nicht-Amerikanerin, kurz als Aus-, oder besser, ihnen fremde Inländerin – der die andere Sprache fremd sein musste.
Sie haben mich darin mit sich selbst verwechselt.

Ich bin mir sicher, obwohl ich es nicht überprüfen konnte, dass dieses Menschen waren, die nie im Leben eine zweite Sprache gelernt hatten, die bestenfalls vor vielen Jahren an einem Grundlagenkurs Französisch an der High School oder auf dem College gescheitert waren, erstarrt vor der schieren Unmöglichkeit, der unglaublichen Anmaßung, dass eine andere Sprache für jemanden, der nicht in sie hineingeboren worden war, überhaupt jemals zu begreifen sein könnte. Als ich in den 1980ern in der DDR aufwuchs, gab es so eine Ehrfurcht vor dem Englischen. „Wie man das th korrekt ausspricht, wird man, wenn man die Sprache nicht von Kind auf spricht, niemals lernen. Das schafft die erwachsene Anatomie nicht mehr. Ist der Mund einmal geformt, kann er die fremde Phonetik nicht mehr nachahmen.“

Als mich die Verhältnisse in den frühen 1990ern im neu zusammengeschlossenen Deutschland zu einer vermeintlichen Inländerin machten, erlebte ich Ähnliches, nur auf der Ebene des Sprechens, statt der Sprache.

Die Art und Weise, wie der Westen damals den Osten – quasi rückstandslos – in sich hineinzupassen gedachte, unterscheidet sich, denke ich, nur unwesentlich davon, wie  den heutigen Neuankömmlingen begegnet wird. Nur scheint mir heute eine überhebliche Forderung damit verbunden. Damals war es ein überheblicher Großmut.

Man schenkte den Ostlern, sie in den Westen und in sein Sprechen aufzunehmen. Ihre Gegenleistung war nicht, ein Sprechen aufzugeben, an dem sie möglicherweise hätten festhalten wollen. Ihre Gegenleistung war, dass sie qua ihres vermeintlich enthusiastischen Ankommens im Westen schon bewiesen hatten, dass sie ihr Sprechen abzulegen nicht nur bereit waren, sondern, anstelle eines eigenen Sprechens prinzipiell nur eine Leerstelle besaßen, oder bestenfalls etwas, über dessen fundamentale Nutzlosigkeit sie sich mit ihren Gastgebern, den Inländern, bereits im Einvernehmen befanden. Von diesen Neuankömmlingen war kein Widerstand zu erwarten, sondern ein dankbares und williges sich Einfügen.

Boris Buden beschreibt in Zone des Übergangs wie sich die Westler am 9. November 1989 an der Euphorie der Ostler beim Überqueren der Mauer berauschen. Im Glück der Ostler beim Anblick des Westens, erkannten sie einen Glauben an das Versprechen des eigenen Systems, der ihnen selbst seit langem fehlte. In den Blicken der Neuankommenden von heute erblickt der Westen keine Bewunderung, sondern Begehren: den unbedingten Willen, Dinge an sich zu reißen, von denen man selbst immer schon zu wenig hat.

Der Osten war damals gerade durch die Euphorie einer Revolution gegangen. Er hatte eine Art des Sprechens, die Jahrzehnte zuvor mit einem Versprechen einhergegangen war, mit ihrer Glaubwürdigkeit auch jeden Anschein von Natürlichkeit verlieren sehen. Zwischen den Zeilen lesen, eine doppelte Sprache sprechen waren die Soft Skills eines Ostens, in dem die Sprache und das Sprechen im Herbst 1989 schließlich zum Medium und Schauplatz einer unerhörten, kurzzeitigen Selbstermächtigung geworden waren. Mit diesen Erfahrungen kamen die Ostler in den Westen.

Bei meiner ersten Westreise erklärte ein Westverwandter, wie dreist es von den schwarzen Südafrikanern sei, sich plötzlich selber regieren zu wollen. („…gerade erst aus dem Busch gekommen“) Der Verwandte war Manager bei einem Elektronikkonzern in Braunschweig und seine Wände waren mit den Fellen und Köpfen der Keiler behangen, die er in seiner Freizeit selbst erlegt hatte. Bei meiner zweiten Westreise saßen wir bei Freunden der Familie in Düsseldorf am Fernseher und sahen zu, wie die Rumänen die Ceaușescus exekutierten. Danach gingen wir bei einem Ausflug nach Bonn am Bundestag spazieren. Alles sah exakt so aus, wie wir es aus den Westnachrichten kannten. Die dritte Reise war eine Klassenfahrt nach Bamberg, auf Einladung des Lion’s Clubs. Der Vorstand der örtlichen Sparkasse berichtete uns von den Vorzügen der firmeneigenen Sozialversorgung. Das ganze Dutzend Herren vom Vorstand war vor den Kopf gestoßen, als eine von uns fragte, warum es denn im Vorstand keine Frauen gäbe. Das war die Zeit, in der wir in der Schule mit unseren Lehrern darüber redeten, aus welchen Gründen sie in die Partei eingetreten waren, und ob es besser sei, nun konsequenterweise in selbiger zu bleiben oder aus ihr auszutreten. Und ob sie meinten, damit Schuld auf sich geladen zu haben. Und wie man mit dieser einen Umgang finden könnte. Der neue, westdeutsche Bürgermeister lud unsere Klasse zu einem Sektempfang ins Rathaus ein, zur Eröffnung einer Ausstellung, die uns auf Bildtafeln erklärte, warum rote und braune Diktatur im Grunde genau das Gleiche seien. Wir nahmen den Sekt und fuhren Paternoster. Der Westen war uns nicht fremd. Er kam uns nur befremdlich vor.

Wenn man als Fremde in etwas ankommt, dass sich als das Normale, das Natürliche setzt, weil es seine eigene Normalität niemals in Frage stellen gemusst hat, ist man im Vorteil. Man kann sehen, wie man als das Andere gesehen wird und wie dieses Anderssein beim Inländer nie das eigene Anderssein, sondern immer nur das eigene Normalsein ins Bewusstsein ruft. Nicht die Kontingenz, sondern das vollständige Einssein mit der Muttersprache. Man sieht, wie das Gegenüber einen nicht sieht, und wie das Gegenüber nicht sieht, dass man auch dieses Nicht-gesehen-Werden sehen kann, und verstehen. Für den Neuankömmling, sind die Inländer unschuldig und transparent wie Kinder. Die „Unschuld in den Gesichtern der Passanten westdeutscher Fußgänger­zonen“, hieß das in etwa bei Heiner Müller.

 

 


Dieser Text ist auf Einladung des wunderbaren Projekts „Man schenkt keinen Hund“* enstanden, das Unterrichsmaterialien der Deutschkurse für Migrant*innen auf die dort vermittelten Integrationskonzepte befragt. „Man schenkt keinen Hund“ (Christine Lemke in Kollaboration mit Scriptings) versucht über unterschiedliche Zugänge und künstlerische / theoretische Strategien die identitären Diskurse um das Konzept „Integration“ zu befragen und diese hinsichtlich ihrer Ausprägungen in der inhaltlichen, ikonographischen und pädagogischen Gestaltung der Lehrmaterialien für Integrationskurse zu untersuchen. Der Reader zum Projekt, in dem auch mein Text enthalten sein wird, erscheint im Herbst 2018.

Mehr Infos: http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/about/

 

“Das Verhängnis einer unvollendeten Revolution”

Was mich an dem Titel des Artikels von Frank Richter zunächst hat aufmerken und hoffen lassen hat, ist dass mit der Anerkennung der Nicht-Vollendung (und damit, diese als Verhängnis zu beschreiben) im Prinzip schon ein erster Schritt getan wäre. Zu sagen: es gibt aus dieser Revolution etwas Uneingelöstes, das zu besprechen wäre.

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Ich glaube durchaus, dass sich aus einem wirklichen Zurückgehen zu 1989/90, und einem Abklopfen dessen, was daraus (seltsamerweise?) immer noch relevant scheint, schon recht konkrete politische Schlüsse ziehen lassen könnten, die uns ein Stück weiter bringen würden. Und dass gleichzeitig ein solches Zurückgehen und Ernstnehmen dieser Geschichte selbst bereits jene Wirkung hätte, nach der der Autor, glaube ich, sucht, nämlich des gehört und gesehen Werdens. Insofern ist es schade, dass der Artikel (das Buch?) dann den Gedanken selbst nicht wirklich ernst nimmt, sondern stattdessen die Mythologisierung der Demokratie-Unfähigkeit des (post-)DDR-Bürgers fröhlich weiter voranschreibt. Eine Revolution sind die Ereignisse von 1989 geworden, als die “Minderheitenposition” der Bürgerbewegten von der nötigen kritischen Masse an Menschen mitgetragen bzw. angeeignet wurde. Eine Revolution wird nicht – wie es in Richters Text heißt – von “Minderheiten vollzogen” (dann wäre sie ein Putsch, ein Coup d’etat gewesen). Warum sich die Mehrheiten nach dem 9. November wieder von den Minderheiten lösten, die die Revolution als eine wirkliche politische Ermächtigung zu gestalten angetreten waren, wäre die interessantere Frage, ebenso wie die, ob und wie dieser Impuls der Revolution möglicherweise auch dort noch weiterwirkte, wo parlamentarische Mehrheitsverhältnisse dieses Weiterwirken unsichtbar machten. Vielleicht waren mit den Bürgerbewegungen nicht gleich auch alle Ideen und Impulse der Revolution abgewählt, möglicherweise lebten sie nur in Formen fort, die sich mit den Mitteln der repräsentativen Demokratie nicht abbilden ließen. Ich denke z.B. an das Fortdauern einer weit jenseits der Minderheit der Bürgerbewegungen 1989 gelebten revolutionären Anmaßung, die Formen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens selbst zu bestimmen – die z.B. in den betrieblichen Kämpfen der frühen 1990er durchaus auch immer wieder gegen die neue Ideologie der vermeintlichen wirtschaftlichen Alternativlosigkeit und der Allmacht und Weisheit des Marktes behauptet wurde. Auch diese Kämpfe waren im Osten durchaus keine Minderheitenphänomene, sie wurden vom medialen und gesellschaftlichen Mainstream nur einfach nicht oder kaum – vor allem nicht als Nachwirkungen der Revolution –wahrgenommen. Ich denke, an diesen Stellen könnte eine “Aufarbeitung” der (Nach)wendezeit produktiv werden. In Form einer Politisierung der Geschichtsschreibung: der Anwendung der revolutionären Anmaßung von 1989 auf das Heute.


Ein Kommentar zu Auszügen aus Frank Richters Buch “Hört endlich zu!”, erschienen am 9. März 2018 auf Krautreporter.de.

Causa Holm, continued

Kommentar zu einem Artikel von Robert Ide, 4.12.17

Herr Ide, Ihre Selbstgerechtigkeit ist so beeindruckend wie erschütternd.
Der Tagesspiegel und Sie als Autor wurden nicht angegriffen, weil Sie “zuerst und intensiv die Frage thematisiert haben, ob Holm als Staatssekretär glaubwürdig ist”.

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Vielmehr wurden konkrete Formulierungen hinterfragt, die Leser*innen unvereinbar mit einem Mindestmaß an journalistischer Ethik erschienen:
Bereits in Ihrem ersten Artikel zum Thema vom 13.12.16 setzten Sie die Umsetzung des von einer demokratisch gewählten Berliner Landesregierung geschaffenen Mittels des Zweckentfremdungsverbots mit Stasimethoden gleich. Zitat: “Das Vorkaufsrecht auf Wohnhäuser, die Regulierung von Sanierungsumfang und Miethöhe in Milieuschutzgebieten sowie die Gesetzgebung gegen die Zweckentfremdung. Wenn nur genügend offizielle und inoffizielle Mitarbeiter zum verschärften Überwachen und Strafen bereit stehen, könnte so mancher in der Ferienwohnungsindustrie bald aufheulen.” http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/berlins-neuer-staatssekretaer-und-die-stasi-was-hat-andrej-holm-getan-und-was-hat-er-dazu-gesagt/14969070.html

Diese implizierte Gleichsetzung der Umsetzung eines Gesetzes mit Stasimethoden offenbart nicht nur ein recht fragwürdiges Demokratieverständnis, sondern verharmlost zudem das tatsächliche Wirken der Stasi und dessen verheerende Folgen.

Eine in Ihrem Artikel gepriesene Einsicht in eigene Fehler würde Ihnen, nicht zu letzt angesichts dieses journalistischen Fehltritts, selbst gut zu Gesicht stehen.

Auch Ihre im selben Artikel geäußerte Einschätzung, der staatstragende Antikapitalismus der DDR fände seine Fortsetzung im heutigen politischen Engagement der Mieterinitiativen beleidigt nicht nur die vielen, meist unbezahlt im Interesse der mehrheitlich zur Miete wohnenden Bewohner*innen Berlins Engagierten. Sie verunglimpft auch jene Dissident*innen, Umweltschützer- und Friedens- und Frauenbewegten, die bis 1989 unter Gefahr für Leib und Seele Widerstand gegen das SED-Regime leisteten und sich für einen Demokratisierung des DDR-Sozialismus einsetzten, nur um nach der Revolution wieder auf der falschen Seite der Macht zu landen. Nämlich in der Regel nicht in den Schreibstuben der etablierten Zeitungen.

Mit seinem Engagement beim aus dem im DDR-Widerstand entstandenen telegraph (ehemals Umweltblätter/ http://umwelt-bibliothek.de/umweltblaetter.html) suchte sich Holm nach 1990 ein Betätigungsfeld, in dem er sich durchaus auf kritische Fragen zu seiner Biographie einstellen musste. Andere haben es sich einfacher gemacht und sind im Dunstkreis der post-SED verblieben, wo es sich schon bald wieder Karriere machen ließ.

Diese Art historisch informierter Differenzierung und Kontextualisierung würde man sich von qualitätsvollem Journalismus wünschen.

In diesem Sinne sei allen, die sich für die tatsächlichen Fakten der “Causa Holm” interessieren, das auf der Seite “Wir bleiben alle” veröffentlichte FAQ empfohlen, das einigen der sich in der Berichterstattung des vergangenen Winters verselbstständigen Formulierungen und Darstellungen anhand der der vorliegenden Originaldokumente, sowie rechtlichen Einschätzungen auf den Zahn fühlt, darunter den Fragen:

– War Andrej Holm hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter?

– Hat Holm falsche Angaben gemacht?

– Hat Andrej Holm seinen Status als Offiziersschüler beim MfS im Fragebogen der HU im Jahr 2005 verschleiert?

Das FAQ findet sich unter:

http://wirbleibenalle.org/?cat=915

[Dieser Kommentar wurde am 4.12.2017 als Reaktion auf einen Artikel im Tagesspiegel geschrieben und dort in leicht geänderter Form in den Kommentarspalten geposted.]

“Der Fall Monika Haeger”

In der RBB Mediathek kann man momentan diese sensible und umsichtige Dokumentation von Peter Wensierski mit und zu seinem Interview mit der IMS Monika Haeger von 1990 anschauen. Mir scheint, dass es für diese Art Gespräche 1990 ein kurzes Zeitfenster gab, dass sich dann rasch wieder schloss, auch weil sich die Fronten verhärteten und die Narrative konsolidierten. Vielleicht ist die Ausstrahlung 27 Jahre später auch ein Zeichen dafür, dass da wieder etwas in Bewegung geraten (sein) könnte.

Dokumente zu “Ostwind” erschienen

“Dabei sahen die Jahre zwischen 1990 und 1994 – ein Sonderfall war der Aufstand der Arbeiterinnen und Arbeiter am 17. Juni 1953 gegen das SED-Regime – die wahrscheinlich größte und längste Welle von betrieblich und regional-gewerkschaftlich selbst organisierten sozialen Widerstands- und Protestaktionen seit der Novemberrevolution. Mindestens 150 ,wilde’ Streiks 1991, 200 jeweils in den Jahren 1992 und 1993,

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die stets mit anderen Protestaktionen kombiniert waren, kennzeichneten diese Jahre. Zudem waren diese Widerstandsaktionen häufig sehr radikal. Hinzu kamen drei große Tarifstreiks von DGB-Gewerkschaften. Doch diese Streiks und Betriebsbesetzungen, Autobahnblockaden, die Besetzung des Rügendamms oder des Dresdner Flughafens sind nicht in die Geschichtserzählung der Linken eingegangen.”

Zitat aus dem Vorwort von Bernd Gehrke zu der außerordentlich umfassenden und wichtigen Recherche des Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West, die jetzt auf

Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute

als PdF zum download bereit steht. 

Politisieren, nicht Pathologisieren

Zum Artikel „Die Frustration sucht ein Ventil” , FR, 14.10.17. Keine Leseempfehlung, sondern ein Einspruch gegen ein Paradebeispiel einer Psychologisierung des Politischen. Schade, denn nur andersherum, durch die Politisierung des Psychologischen, würde ein Schuh draus – gerade wenn man das mit der Stärkung der Demokratie im Osten ernst meinte.

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Was der Text macht, ist, die hier noch dazu dezidiert als nicht-bürgerlich markierte (d.h. als “anders als ich/wir” deklarierte) Wählerschaft/Sympathisant*innen der AfD zu pathologisieren, im Prinzip zu erklären, sie seinen aufgrund ihrer psychologischen Beschädigung und nichtbürgerlichen Sozialisierung nicht geeignet, sich politisch rational zu verhalten, sich also als Subjekte einer Demokratie zu qualifizieren. Um diesen Status zu erreichen müssten sie, so der Autor, zunächst umerzogen werden. (Autoritärer gehts nimmer).

Gegenvorschlag wäre: zu verstehen versuchen, ob und wie hinter den Wahlentscheidungen dieser Personen auch durchaus rationale/ nachvollziehbare Interessen und Beweggründe stecken könnten. Ob sie also eine zunächst nachvollziehbare Reaktion auf historische Verhältnisse oder Vorgänge (die Erfahrung der DDR-Diktatur und der Verheerungen der 1990er Transformationsprozesse, die unzureichende gesellschaftliche Bearbeitung von beiden) sind, und dann zu fragen, warum diese sich auf eine solche – pathologische, reaktionäre – und nicht auf eine andere Art und Weise äußern, oder vielleicht sogar unter den gegenwärtigen Umständen, mangels Alternativen fast nur so äußern können. Dann versuchen, diese äußeren Umstände entsprechend zu ändern und tatsächliche “Alternativen” zu schaffen. Et voilá da wäre sie, die Gelegenheit für unser aller politisches Engagement und Aktivierung.