Signale, Gesten, kollektive Körper.

Signale, Gesten, kollektive Körper. Der dissidentische Feminismus in Gabriele Stötzers künstlerischer Praxis war mein Beitrag zu Andreas Beitin, Uta Ruhkamp, Katharina Koch (Hg.): Empowerment Kunst und Feminismen, Berlin, 2022.

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Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Hess.

Der Kampf für die Emanzipation der Frau galt in der DDR im Vergleich zur Emanzipation der Arbeiterklasse als zweitrangig. Die Gleichberechtigung der Geschlechter war in der Verfassung der DDR von 1949 festgeschrieben; die Frage galt damit als in dem sozialistischen Staat abgehakt. Tatsächlich aber waren als Frauen sozialisierte Menschen in den höheren Etagen staatlicher Institutionen oder Unternehmen kaum präsent und sahen sich zudem mit der Doppelbelastung von Vollzeitbeschäftigung und häuslicher Reproduktionsarbeit konfrontiert. Diese Ungleichheiten und Widersprüche wurden jedoch, selbst in den dissidentischen Szenen der DDR, politisch kaum thematisiert. Wer dies doch tat oder sich gar als „feministisch“ bezeichnete, stieß auf Ablehnung.[1] Künstlerinnen, die in oppositionellen Kreisen aktiv waren, sahen sich weniger im Konflikt mit den Männern als mit dem Staat.[2] Sie suchten ihre eigene Ermächtigung eher darin, die männlich dominierten Ideale des Untergrunds[3] zu übernehmen, statt sich gegen diese aufzulehnen oder sie durch eigene zu ergänzen oder zu ersetzen. Nur wenige künstlerische Praktiken – wie die von Annemirl Baur oder Angela Hampel – bezogen sich ausdrücklich auf Geschlechterfragen oder das eigene „Frausein“.

 

Die kollaborativen Performances der Erfurter Künstlerin Gabriele Stötzer (geb. 1953 in Emleben, Thüringen) waren daher insofern sehr ungewöhnlich, als sie einerseits die Vorstellungen des sozialistischen Staates von Kollektivität, Geschlecht und Kunst hinterfragten, zugleich jedoch auch mit dem Selbstverständnis der dissidentischen Szenen beziehungsweise des künstlerischen Untergrunds brachen, dem Stötzer selbst angehörte. Während Letztere den vermeintlich autonomen Körper des (männlichen) Künstlers als einen raren Rückzugsort vor den Zurichtungen des sozialistischen Systems zelebrierten, entwickelte Stötzer in ihrer Kunst wiederum einen dissidenten, weiblichen, kollektiv konfigurierten Körper, der sich gerade dann aus den staatlichen Zwängen und Zuschreibungen zu lösen vermag, wenn er sich als maximal offen, dezentriert oder fragmentiert erlebt.

Der vorliegende Text spürt Stötzers spezifischem dissidenten Feminismus in diesen von ihrer Praxis ermöglichten Formen einer geteilten Verletzlichkeit nach.

 

 

Eine kollaborative Kunstpraxis entsteht aus der Erfahrung einer fundamentalen persönlichen Erschütterung

 

Gabriele Stötzer war in den späten 1970er Jahren, damals unter ihrem Ehenamen Kachold bekannt, zunächst in der dissidentischen Literaturszene ihrer Heimatstadt Erfurt aktiv. Ihre besonderen, kollaborativen und körperzentrierten performativen Praktiken begann sie aber erst nach dem Erleben einer radikalen Erschütterung ihrer Körper- und Selbstwahrnehmung zu entwickeln. Stötzer wurde 1977 verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe wegen „Staatsverleumdung“ verurteilt, nachdem sie den berühmten offenen Brief an die DDR-Führung gegen die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers Wolf Biermann mitunterzeichnet und verbreitet hatte. Sie verbrachte sieben Monate in der „Mörderburg“ Hoheneck, dem berüchtigten Frauengefängnis, dessen Insassinnen wegen Gewaltverbrechen oder politischer Straftaten verurteilt worden waren.[4] Die Begegnungen mit ihren weiblichen Mitgefangenen unter den körperlich wie psychisch extrem harten Haftbedingungen sollten ihre Wahrnehmung ihrer selbst, aber auch ihres Geschlechts und des sozialistischen Projekts in der DDR grundlegend erschüttern und verändern. Zu ihrem Gefängnisaufenthalt sagte Gabriele Stötzer später selbst: „Mein ganzes Bild von der Welt, von der DDR und von Frauen brach in einem Mal zusammen.“[5]

 

Die Körper ihrer Mitgefangenen, der Mörderinnen, Diebinnen und Prostituierten, widersetzten sich den beiden Konfigurationen des weiblichen Körpers, die in der DDR nicht so sehr miteinander konkurrierten, als sich vielmehr überschnitten: der traditionelle, (klein-)bürgerliche Körper des Mädchens „aus einem ordentlichen Haushalt“[6] und der sozialistische Körper der disziplinierten, produktiven Arbeiterin, der das ältere, bürgerliche Ideal eher überlagert als ersetzt hatte. Keine dieser Konfigurationen ließ sich für Stötzer mit den Verhaltensweisen der Frauen im Gefängnis in Einklang bringen: „Dass Frauen sich auch körperlich lieben, sich tätowieren, Löffel schlucken, um sich umzubringen – darauf hatten sie weder der real existierende Sozialismus noch ihre Eltern vorbereitet. Das Frauenbild der ordentlichen und fleißigen Mutter und Arbeiterin – von der eigenen Mutter vorgelebt und vom DDR-Regime als Prototyp der ,emanzipiertenʻ Frau propagiert – zerbricht.“[7] Es waren, in Stötzers eigenen Worten, „schicksale und eigenschaften, die ich frauen vorher nicht zuordnen konnte“.[8]

 

 

Mit der Zeit brachten Stötzers Einladungen immer mehr Frauen (und einige Männer) in einem „kollektivistischen Lebens- und Arbeitsentwurf“ [12] zusammen, der sich von ihrer Kunst nicht mehr trennen ließ. Eine solche Praxis forderte einerseits die vom Sozialistischen Realismus postulierte funktionalistische Verquickung von Kunst und Gesellschaft heraus – aber eben auch die diesem Postulat entgegengestellten Ausdrucksformen ihrer Kolleg*innen im künstlerischen Untergrund.

 

 

Eine doppelte Befreiung: gegen das Patriarchale im DDR-Staat und seinen Untergrundszenen

 

Viele Künstler*innen der Generation Stötzers versuchten, sich dem ideologischen Zugriff des Staats durch einen Rückzug in den hermetischen, homogenen Zirkel des Untergrunds und in eine explizit „unpolitische“ Kunst zu entziehen. Der Körper des – als männlich imaginierten – autonomen Künstlers galt nicht nur als Quelle der (individuellen) künstlerischen Autorschaft, sondern auch als Ort der Rebellion gegen beziehungsweise der Freiheit von den Zumutungen des Regimes. Als „frei“ galt der wilde, heroische, männliche Bohemien.[13]

 

Gabriele Stötzers Entscheidung, mit Frauen und über das Thema „Frausein“ zu arbeiten, war daher nicht nur eine Provokation für den ostdeutschen Staat, sondern überdies auch für die oppositionellen Kreise, in denen sie sich bewegte. 1984 gründete sie die einzige Künstlerinnengruppe der DDR, die unter dem Namen „Künstlerinnengruppe Erfurt“ (später Exterra XX) bekannt wurde. Im Laufe der Jahre nahmen Monika Andres, Tely Büchner, Elke Carl, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Verena Kyselka, Bettina Neumann, Ingrid Plöttner und Harriet Wollert sowie Ines Lesch, Karina Popp, Birgit Quehl, Jutta Rauchfuß und Marlies Schmidt – und gelegentlich weitere Personen – an den Aktivitäten der Gruppe teil.[14] Statt das eigene oppositionelle Selbstbild an einer möglichst radikalen Unterscheidung zwischen Untergrund und Staat festzumachen, beschäftigte sich die Gruppe in ihren Experimenten mit patriarchalischen Formen der Unterdrückung, die beiden Kontexten gemeinsam waren. Im Schutz von Formen der Soziabilität und Kooperation, die in der Gruppe geschaffen und gepflegt wurden, erforschten die Frauen sowohl ihre eigenen Körper wie auch die der anderen, jenseits von und entgegen den propagierten Geschlechter- und gesellschaftlichen Normen.

 

 

 

Eine neue Realität: Stötzers feministische Kunst und ihre aktivistische Praxis werden eins

 

Der Film „signale“ war ein Projekt, das Stötzers Gruppe im Frühjahr 1989 begann und das sich als vorausahnend, ja sogar als „prophetisch“ erweisen sollte. „signale war etwas für mich verborgenes, es rief mich das andere, unausgesprochene.“[16]

 

Wenige Monate später sollte die „neue realität“, die ihre Arbeit erfühlt hatte, überall explosionsartig zur wunderbaren Wirklichkeit werden. Als im Herbst 1989 die Revolution begann, öffneten sich die Experimente der Frauen mühelos einer rasanten und allumfassenden Politisierung – einem kollektiven Neudenken – aller Lebensbereiche. Die implizite (oder Mikro-)Politik ihrer feministischen, künstlerischen Kooperationen und das konkrete (makro-)politische Handeln wurden ununterscheidbar eins. Die Gruppe Frauen für Veränderung gründete sich im Oktober 1989 aus Stötzers Gruppe und anderen engagierten Thüringer Frauengruppen in Erfurt und baute auf deren materiellen und immateriellen Grundlagen auf: Netzwerken, Ressourcen, Fähigkeiten, dem Einander-Kennen und Vertrauen.[17] Die Gruppe beteiligte sich maßgeblich an den allwöchentlichen Erfurter Demonstrationen und organisierte im Rathaus der Stadt erstmalig Versammlungen nur für Frauen.

 

Am 8. November 1989 ergriff Stötzer vor 300 Frauen das Wort:

 

„gegen die führungsrolle des mannes

gegen die führer

gegen die rollen

gegen die bilder

gegen die frauenbilder der letzten 40 jahre“[18]

 

Im Moment der Revolution wurden die Dekonstruktion der ideologischen und politischen Struktur des DDR-Sozialismus, seiner Rollen und politischen Hierarchien und die Dekonstruktion seiner patriarchal geprägten Geschlechterrollen als gegenseitig bedingt erkennbar und somit als solche verhandelbar. Die ästhetisch vermittelten Formen des kollektiven „Selbst-“ und „Frau“-Seins, die Stötzers künstlerische Kollaborationen jahrelang herausgearbeitet hatten, konnten nun endlich benannt und auch außerhalb ihrer Kunst gelebt werden. Am 8. November 1989 entfalteten die körperlichen Signale in Stötzers Kunst – wenigstens für einen kurzen Moment – ihre kommunikative Wirkung auch jenseits der kleinen Zirkel ihrer künstlerischen Aktivitäten. Die besondere Konstellation von Politik, Kunst und Geschlecht, die Stötzers Praxis aus den Widersprüchen und der zunehmenden Durchlässigkeit ihres staatssozialistischen Verständnisses formuliert hatte, begann nun sichtbar zu werden und betrat den Bereich des Möglichen.

 

 

Nach 1990: Stötzers politisch-ästhetische Arbeitsweise wird in den Vokabularen des Westens unlesbar

 

Die politische Neuorientierung der Revolution in Richtung der deutschen Wiedervereinigung bereitete diesen Experimenten und Träumen ein rasches Ende. Nach dem 3. Oktober 1990 gingen der ostdeutsche Staat und seine spezifischen Kulturen ebenso in einer vergrößerten BRD auf wie die dissidenten Formen von Weiblichkeit, die Stötzer und ihre Gruppe herausgearbeitet hatten. Stötzers dissidenter Feminismus und ihre politisch-ästhetischen Erforschungen neuer Formen von Kollektivität wurden – in den nun dominierenden Vokabularen des Westens –abermals unlesbar.

 

Auch die in den politischen Kämpfen des Westens geformten feministischen Sprechweisen waren wenig geeignet, die Geschlechterverhältnisse in der einstigen DDR zu fassen: Die spezifischen Arten, das eigene (weibliche) Geschlecht zu leben und zu erleben, welche die nur vordergründig progressive Sozial- und Geschlechterpolitik des Staatssozialismus ermöglicht und verunmöglicht hatten, waren in deren Vokabularen eben so wenig beschreibbar, wie die dissidenten Gegenvorschläge von Stötzers Gruppe.

 

Gleiches passierte im Feld der Kunst, wo ein westlicher Kunstbegriff nicht nur ostdeutsche künstlerische Praktiken aus dem Blick geraten ließ, sondern auch – was vielleicht noch gravierender ist – die materiellen und diskursiven Kontexte, in denen deren Ästhetik und Politik überhaupt nur lesbar waren. Kunsthistorische Untersuchungen zum künstlerischen Untergrund der DDR blieben denn auch oft in dem aus dem Kalten Krieg übernommenen Gegensatz von Kommunismus und Antikommunismus verhaftet und reproduzierten so eben jene geschlechtlich kodierten (männlich konnotierten) Vorstellungen eines befreiten, autonomen Künstlergenies, die Gabriele Stötzers künstlerische Praxis durchkreuzt hatte. Auch das führte dazu, dass ihre Kunst viele Jahre nur wenig Beachtung fand.

 

Seit einigen Jahren zieht die Öffnung des Diskurses zu DDR und „Nachwende“ nun auch ein wachsendes Interesse am Werk von Gabriele Stötzer und ihrer Gruppe nach sich. Das Wissen um die Möglichkeiten, die eigene Geschlechtlichkeit anders zu leben, das in den filmischen und fotografischen Dokumenten von Stötzers künstlerischer Praxis aufbewahrt ist, wartet auf eine Entschlüsselung. Die großartige Aufgabe, den Schatz dieses feministischen Erbes zu heben, steht nun an.

 

Anmerkungen

 

[1] Siehe Angelika Richter, Das Gesetz der Szene: Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, Bielefeld 2019, S. 136.

[2] Siehe ebd., S. 144.

[3] Für die Beschreibung von Personen und Gruppen in der DDR (inklusive ihrer Kunstszenen), die sich selbst als kritisch gegenüber dem Staat und seinen Institutionen verstanden oder staatlicherseits als Kritiker*innen oder Gegner*innen wahrgenommen wurden, werden diverse Begriffe verwendet: oppositionell, dissidentisch, nonkonform, Untergrund u. v. a. Sie bilden jedoch immer nur Teilaspekte des Selbstverständnisses von Akteur*innen ab, bleiben also immer ein Stück weit unzulänglich. Ich verwende hier auch den Begriff „dissident“, der dem Englischen entlehnt ist, und der das Konzept der Dissidenz in Richtung eines erweiterten Politikbegriffs öffnet.

[4] Siehe Claus Löser, Strategien der Verweigerung: Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR, Berlin 2011, S. 290.

[5] Gabriele Stötzer: Anklagepunkte, n.d., Zeitzeugenportal, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=UwGwd6dS-uE (Zugriff: 09.11.2021).

[6] Rebecca Hillauer, Zeit hinter Mauern, in: der Freitag vom 18. Oktober 2002, o. S. Online verfügbar unter: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/zeit-hinter-mauern (Zugriff: 09.11.2021).

[7] Hillauer ebd.

[8] Zit. in: Karin Fritzsche/Claus Löser (Hrsg.), Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976 – 1989. Texte, Bilder, Daten, Berlin 1996, S. 75.

[9] Stötzer im Gespräch mit der Autorin.

[10] Siehe C. Löser (Anm. 4), S. 294.

[11] Zit. in: K. Fritzsche /C. Löser (Anm. 8), S. 76.

[12] Ebd., S. 296.

[13] Siehe A. Richter (Anm. 1), S. 108.

[14] Siehe ebd., S. 131.

[15] Zit. in: K. Fritzsche/C. Löser (Anm. 8), S. 76.

[16] Gabriele Stötzer in einer E-Mail an die Verfasserin, Mai 2013.

[17] So initiierten Stötzer und vier Frauen aus ihrem Umkreis die landesweit erste erfolgreiche Besetzung eines lokalen Stasi-Hauptquartiers, auf die bald weitere an anderen Orten folgten. Siehe Peter Große/Barbara und Matthias Sengewald, Die Besetzung der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR am 4. Dezember 1989 in Erfurt , hrsg. v. der Gesellschaft für Zeitgeschichte, Erfurt, n. d.. Online verfügbar unter: www.gesellschaft-zeitgeschichte.de (Zugriff: 09.11.2021).

[18] Aus dem Dokument „geredet im rathaussitzungssaal vor frauen eingeladen von der bürgerinneninitiative frauen für veränderung am 8.11.89 gegen 22 uhr“, Gabriele Stötzer, Privatarchiv.

Signals, Gestures, Collective Bodies

Very happy to contribute my text Signals, Gestures, Collective Bodies: Uncovering the Dissident Feminism of Gabriele Stötzer’s Art to Andreas Beitin, Uta Ruhkamp, Katharina Koch (Eds.): Empowerment Kunst und Feminismen, Berlin, 2022.

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In the German Democratic Republic (GDR), the emancipation of women was considered as subsidiary to that of the working class. The equality of the genders was inscribed in the GDR constitution, and so the question was accordingly considered to be resolved in this socialist state. In reality, people socialized as women were, however, rarely present in the higher echelons of state institutions or companies and found themselves confronted with the double burden of full-time employment and reproductive labor at home. But these disparities and contradictions were rarely taken on politically, even in the GDR’s dissident scenes. To do so or to call oneself “feminist” was, in fact, frowned upon.[1] Women artists active in these circles felt themselves to be in opposition to the state, more so than men,[2] and often sought their emancipation in emulating, rather than subverting or resisting, these male-centric ideals of the underground.[3] Few practices—like the ones of Annemirl Bauer or Angela Hampel—made explicit reference to gender or “womanhood.”

The collaborative performances of the Erfurt artist Gabriele Stötzer (b. 1953 in Emleben, Thuringia) stood out, as they challenged the socialist state’s concepts of being collective, of gender, and of art, but they also broke with the self-understanding of the country’s dissident and underground artistic scenes that she was a part of. Where the latter espoused the (male) artist’s autonomous body as a rare site of refuge from the socialist system’s demands, Stötzer’s art elaborates a dissident, female, collectively configured body that is at its most liberated when it is maximally decentered, fragmented, and open to the world.

The text at hand is dedicated to the specific feminism of her practice that rests in the forms of being together in embodied vulnerability made possible in her work.

 

A Profound Physical Experience of Disruption Gives Rise to a Collective Art Practice

Gabriele Stötzer (known by her married name of Kachold at the time) had initially been active in the dissident literary scenes of her hometown of Erfurt. She would develop her unique collaborative and body-centered performative practice after an experience that shattered her perception of her physical and mental self and her place in the world. In 1977, Stötzer had been arrested and sentenced to imprisonment for signing and distributing the infamous open letter against the expatriation of Wolf Biermann, the dissident singer-songwriter. She spent seven months in Hoheneck, the “murderer’s fortress,” the infamous prison for female felons with convictions for violent or political crimes.[4] The encounters with her fellow prisoners under the prison’s conditions of extreme physical and psychological hardship would profoundly disrupt and alter her perception of herself, of her gender, and of the socialist project in the GDR. Of her imprisonment, Gabriele Stötzer later said: “my whole image of the GDR and of women collapsed at once.”[5]

The bodies of her fellow inmates, the women murderers, thieves, and prostitutes, defied two configurations of the female body that not so much competed as overlapped in the GDR: the traditional (petit-)bourgeois female body of the girl “from a decent family”[6] and the socialist body of the disciplined and productive woman worker which had superimposed itself onto, rather than replaced, the older, bourgeois ideal. Neither of these squared with the behaviors of the women in jail: “women who love each other physically, who tattoo themselves, who swallow spoons to kill themselves, and for whom neither real existing socialism nor her parents had prepared her. The image of the tidy and hard-working mother and worker—embodied by her mother and propagated by the GDR regime as the image of the ‘emancipated’ woman—fell apart.”[7] In Stötzer’s own words, there were “biographies and qualities that i could not reconcile with my image of women.”[8]

Upon her release, Gabriele Stötzer found that she could not talk about her experience, but that it returned to her in mental images. Unlike other former political prisoners who turned their main focus of activity to politics, Stötzer found herself pushed toward poetry and art. She found that the reworking of her (gendered) self after its violent disruption during her imprisonment had to be collective, that it could not be achieved alone. To find the collaborators she needed for her creative process, Stötzer began joining together with others, usually women, who had likewise had negative experiences with state-run organizations. Under constant surveillance by East Germany’s Ministry for State Security (Stasi), and despite its attempts to disrupt their activities, the women met once a week in Stötzer’s private gallery and in squatted condemned buildings that had been converted into photo labs and studios.[9] They talked about dreams, experimented with singing and sound,[10] and made clothes and props in which—or without which altogether—they filmed and photographed each other. Friendships laid the foundation for a relationship of trust that made it possible for the women to push their limits. Stötzer once described her work with these women as a barter transaction: “offering them nothing but their own bodies back as a experience, as feeling, as sensing, as the crossing of a threshold of their own unanswered questions about their female sex.”[11]

Over time, Stötzer’s invitation drew increasing numbers of women (and even some men) into a “collectivist work and life concept”[12] that became indistinguishable from her art—and that, in doing so, confounded both older Socialist Realist concepts of the relationship of art and society and the “underground” or “non-conforming” art forms developed in response to the former by her peers.

 

A Double Escape: Resisting Patriarchal Oppression in the East German State and Its Underground Scenes

For many artists of her generation, escape from the stifling ideological encroachment of the state had meant withdrawing into the hermetic, homogeneous circles of the “underground” and into an explicitly apolitical art. The individual artist body, conceived of as male, was not only the source of (individual) artistic authorship, but also a place of rebellion against and freedom from the demands of the regime. The figure of the wild, “free” male bohemian artist loomed large.[13]

Gabriele Stötzer’s decision to work with women and on the subject of womanhood, was, accordingly, a provocation for both the East German state and the oppositional circles in which she moved. In 1984, she founded the GDR’s only existing artist women’s group, known as the Künstlerinnengruppe Erfurt (Erfurt Women Artists’ Group), later Exterra XX. Over the years, Monika Andres, Tely Büchner, Elke Carl, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Verena Kyselka, Bettina Neumann, Ingrid Plöttner, and Harriet Wollert, as well as Ines Lesch, Karina Popp, Birgit Quehl, Jutta Rauchfuß, and Marlies Schmidt, took part in the group’s activities with more persons participating occasionally.[14] Instead of working along a binary opposition between underground and state, the group’s experimentations took on patriarchal forms of repression shared by both. In the safety of the forms of sociability and collaboration fostered within the group, the women explored their own and each others’ bodies outside and against gender and societal norms.

To emancipate themselves from the double assault of the equally patriarchal regime and underground they could no longer seek shelter in a supposedly liberated male-connotated individual artist body, experienced as a mode of oppression itself. The bodies in the photographic and filmic experimentations of Stötzer’s group are no longer heroic; they are wounded, fragile, vulnerable, and interpenetrating with the world. In some their photographed interactions, bandages conceal and constrain a body or connect two bodies into one; in others, bodily openings are marked or pulled open with hands, skin is stretched and pulled or painted upon. To liberate oneself means to be radically collective, open to others, and decentered in these works. By moving beyond given configurations of gender and of political binaries of underground versus state, these bodies sense and try out ways of being that the available languages of that time could not (yet) express. They came to function as anticipations, experimental configurations, of what Gabriele Stötzer calls, in regard to her own bodily sensing, “a new reality,” and of which she says: “this other reality was not the west.”[15]

 

A New Reality: Stötzer’s Feminist Art and Activist Practice Merge into One

The film signale (signals) was a project that her group started in the spring of 1989, and that would turn out to be anticipatory, even “divinatory” in this way. “signals was about something obscured, it called on something other, not yet speakable.”[16]

A few month later, the “new reality” that their work had signaled toward, began to explode into glorious being all around. When the revolution began in the autumn, the women’s experimentations opened out effortlessly into the rapid politicization—the collective rethinking—of all arenas of life. The implicit (or micro)politics of their feminist artistic collaborations was filtered into concrete (macro)political acts. The group Frauen für Veränderung (Women for Change) formalized out of Stötzer’s circles and built on the material and immaterial supports the former had put into place: networks, resources, skills, along with mutual knowledge and trust.[17] The group played a significant role in Erfurt’s weekly demonstrations and, for the first time, organized gatherings for women only at the city’s town hall.

On November 8, 1989, Stötzer spoke out in front of the 300 members of the new group:

against men as leaders

against leaders

against roles

against images

against the images of women of the last 40 years[18]

In the revolutionary moment, the taking apart of the ideological, political configuration of GDR socialism, of roles and political hierarchies, and the taking apart of its specific configuration of gender, of patriarchy, became addressable as one and the same. The aesthetically mediated forms of collective “self-” and “woman”-hood, which Stötzer’s collaborations had been elaborating for some years, could now also and finally begin to be named—and inhabited outside of her art. On November 8, the bodily signals in Stötzer’s art found their communicability beyond the small circles of her collaborations—at least for a short moment in time. The particular constellation of the political, of art and gender, that Stötzer’s practice had begun to weave out of the contradictions and the increasing porosity of their state-socialist conceptualizations began to gain visibility and entered the realm of the possible.

 

After 1990: Stötzer’s Art and Its Politic Become Illegible in the Vocabularies of the West

The revolution’s political rerouting toward German national unification in the winter of 1990 made short shrift of these experimentations and dreams. After October 3, 1990, as the East German state and its specific cultures disappeared into an enlarged Federal Republic of Germany (FRG), so did the dissident femininities like those elaborated by Gabriele Stötzer and her group. Both Stötzer’s dissident feminism and her political-aesthetic explorations of new forms of being collective became once more unspeakable—in the now dominant vocabularies of the West.

Feminist languages, too, honed in the particular struggles of the West, have missed the ways in which state socialism’s ostensibly progressive social and gender politics enabled and disabled differently gendered ways of being—and the strategies developed in response. Western understandings of art, likewise, made not only East German art practices disappear from view, but also, and maybe more crucially, the material and discursive contexts in which their aesthetics and politics could be read. Art-historical analyses of the GDR’s artistic underground, often deeply steeped in communist and anti-communist binaries inherited from the Cold War, have tended to reiterate precisely those strongly gendered—male connotated—notions of the liberated, autonomous artist genius that Stötzer’s practice crossed. In consequence, her practice received little attention for many years.

It is good news that interest in the work of Gabriele Stötzer and her group is now on the rise. Decoding and uncovering the knowledge and the possibilities of being differently, dissidently gendered—which their bodies, preserved in film and photos, signal into our present—is a generous and careful feminist work calling to be done. The wonderful task of unearthing the treasure of this feminist heritage is now at hand.

 

[1] Angelika Richter, Das Gesetz der Szene: Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR (Bielefeld, 2019), p. 136.

[2] Ibid., p. 144.

[3] Various terms have been used to describe individuals and groups in the GDR (including its art scenes) who saw themselves as critical of the state and its institutions or who were perceived by the state as critics or opponents: oppositional, dissident, nonconformist, underground, and many others. However, none of these terms convey the whole picture, especially when it comes to the protagonists’ self-perception.

[4] Claus Löser, Strategien der Verweigerung: Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR (Berlin, 2011), p. 290.

[5] “Gabriele Stötzer: Anklagepunkte,” n.d., zeitzeugen-portal, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=UwGwd6dS-uE (all URLs accessed in June 2022).

[6] Rebecca Hillauer, ‘Zeit hinter Mauern’, der Freitag, October 18, 2002, sec. Kultur, http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/zeit-hinter-mauern.

[7] Ibid.

[8] Stötzer quoted in Karin Fritzsche and Claus Löser, Gegenbilder: Filmische Subversion in der DDR 1976–1989; Texte, Bilder, Daten (Berlin, 1996), p. 75.

[9] Stötzer in conversation with the author.

[10] Löser 2011 (see note 4), p. 294.

[11] Fritzsche and Löser 1996 (see note 8), p. 76.

[12]  Löser 2011 (see note 4), p. 296.

[13] Richter 2019 (see note 1), p. 108.

[14] Ibid., p. 131.

[15] Fritzsche and Löser 1996 (see note 8), p. 76.

[16] Stötzer in an email exchange with the author, May 2013.

[17] Stötzer and four women from her circles would, for example, launch the first successful occupation of a local Stasi headquarters in the country, soon to be followed by others elsewhere. See Peter Große, Barbara Sengewald, and Matthias Sengewald, “Die Besetzung der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR am 4. Dezember 1989 in Erfurt,” Gesellschaft für Zeitgeschichte, n.d., www.gesellschaft-zeitgeschichte.de.

[18] From the document “geredet im rathaussitzungssaal vor frauen eingeladen von der bürgerinneninitiative frauen für veränderung am 8.11.89 gegen 22 uhr,” private archive of Gabriele Stötzer.

kuratieren ist sorge

kuratieren ist sorge – formen der sorge in praktiken des kritischen kuratierens
war mein Textbeitrag (hier in deutscher Übersetzung) zu Anna Schäffler, Friederike Schäfer, Nanne Buurman, AG Networks of Care, nGbK, (Eds.): Networks of Care. Politiken des (Er)haltens und (Ent)sorgens, Berlin, 2022

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curate (v.) von lateinisch curatus, Partizip Perfekt von curare „sich sorgen“; siehe auch: cure (v.); spätes 14. Jh., „gesund machen oder ein gesunder Zustand“, von altfranzösisch curer und direkt von lateinisch curare „sich sorgen“, daher in der medizinischen Sprache „medizinisch behandeln, heilen“. Auch: für ein Museum, eine Galerie, eine Kunstausstellung etc. „verantwortlich sein, verwalten“. Ein früheres Verb, curatize (1801), bezieht sich auf das Substantiv „(Kirchen-)Kurator“; spätes 14. Jh., „geistlicher Führer, Kleriker, der für das geistige Wohlergehen der ihm Anvertrauten verantwortlich ist; Gemeindepfarrer“, von mittelalterlich lateinisch curatus „jemand, der für die Sorge (der Seelen) verantwortlich ist.[1]

 

wenn kuratieren sorge ist, dann sorge durch wen, für wen, wofür?

wenn kuratieren sorge ist, dann wie?

 

wer sorgt sich und um wen?

die institution um die kurator_innen?

die kurator_innen um die künstler_innen?

die künstler_innen um die institution?

alles dreis aber umgekehrt?

 

wer sorgt für die zeit, die es braucht, damit kreative arbeit stattfinden kann?

wer sorgt für die integrität der werke?

 

wer sorgt sich um das publikum?

ist sorge zustimmung oder kann es auch heißen mehr zu fordern?

bedeutet sorge fürs publikum überfluss herzustellen?

oder ist weniger zu zeigen auch eine art sorge?

was ist die arbeit der betrachter_innen?

 

wenn sich die sorge um das publikum und die sorge um die kurator_innen, die sorge um die künstler_innen und die sorge um die institution nicht nahtlos ineinander fügen – sollte dann eine form der sorge vorrang vor der anderen haben? wessen sorge ist privilegiert, wenn sorge eine begrenzte ressource ist?

wer entscheidet darüber?

 

was ist die arbeit des kuratierens? ist denken arbeit, ist lesen arbeit, ist es arbeit, umherlaufen und zuzuhören wie ein gedanke im kopf gestalt annimmt? wie misst sich der wert dieser arbeit?

 

an der anzahl der formate,

der kunstwerke,

der besucher_innen,

der twitter-erwähnungen,

der rezensionen?

oder an der qualität der beziehungen, die der prozess des kuratierens ermöglicht?

wie misst man diese?

 

wer misst?

die produzent_innen? das publikum? die institution? die geldgeber_innen?

 

ist eine kuratorische arbeit erfolgreich, wenn sie ihre macher_innen erschöpft zurücklässt?

 

kann kritik sorgend sein?

kann sorge in der suche nach perfektion liegen?

 

wie kann sorgearbeit sichtbar werden?

welche sorgearbeit und wessen?

 

die arbeit, toiletten zu putzen, oder nächtelang zu diskutieren, bis ein bestimmtes problem gelöst ist? die arbeit, die es braucht, um tief durchzuatmen, wenn man aus der haut fahren will, oder die arbeit, die es braucht, um wieder zu atem zu kommen, wenn dies jemand anderem passiert ist?

 

für welche dieser arten von arbeit werden wir bezahlt?

wie werden wir bezahlt?

ist bezahlung eine form der sorge?

 

wie kalkuliert man eine gerechte bezahlung?

auf der grundlage der bedürfnisse,

fähigkeiten,

qualifikationen,

dem jeweiligen wert, den der so genannte freie markt den verschiedenen arten von arbeit zuweist?

sollte die arbeit des kuratierens gleich bezahlt werden wie die der künstler_innen, der flyer-designer_innen, der person am kassenschalter? ist es sorge, alle unterschiedlich oder alle genau gleich zu bezahlen?

sollte jemand besser bezahlt werden, dessen arbeit unglaublich langweilig ist?

sollten wir für die zeit bezahlt werden, die es braucht, um unsere eigenen körper zu regenerieren?

wer zahlt für die babysitter_in?

sollten wir darauf beharren, dass alle arbeitsstunden, die für die gestaltung einer ausstellung nötig sind, auch bezahlt werden? oder darauf, nur genau die stunden in diese arbeit zu stecken, für die wir tatsächlich bezahlt werden? schaffen wir es, eine wand leer zu lassen?

was ist mit bezahlung

in form von anerkennung?

in form von kulturellem kapital?

in form von freundschaft?

in form von unterstützung?

mit dem versprechen auf all diese dinge irgendwann einmal, später?

mit dem spass an der arbeit?

ist das genug?

wie werden wir großzügiger mit uns selbst und einander?

ist das einverständnis, kostenlos oder für wenig geld zu arbeiten, ein akt der sorge? ist es ein privileg? kann es eine pflicht sein?

ist eine arbeit noch kritisch, wenn sie bezahlt wird? ist eine arbeit noch kritisch, wenn sie gut bezahlt wird?

wenn ich euch sage, dass ich für das schreiben dieses textes 150 euro brutto bekommen und 8 stunden daran gesessen habe, erscheint euch das angemessen, zu viel oder zu wenig?

hätte mein text für diese bezahlung länger, kürzer, umfangreicher oder weniger umfangreich sein sollen? würde es einen unterschied machen, wenn ich sage, dass die arbeit an diesem text ein kampf war, aber auch ein vergnügen?

sollte das eine rolle spielen?

wie begegnen wir den widersprüchen in den ökonomischen politiken unserer praxis?

wie können wir unsere arbeit und unsere begegnungen als eine praxis der sorge um uns selbst und andere gestalten? (und wenn die sorge um einen selbst auf kosten von anderen geht – ist das noch sorge? und vice versa?)

wissen wir bereits oder müssen wir noch besser lernen, wie eine sorgende arbeit und ein sorgender arbeitskontext aussehen könnten?

können wir es gemeinsam lernen?

 

Elske Rosenfeld, geboren 1974 in Halle/S. (DDR), arbeitet in verschiedenen Medien und Formaten. Ihr hauptsächlicher Schwerpunkt und Material sind die Geschichte des Staatssozialismus, seiner Dissidenzen und der Revolution von 1989/90. Die Fragestellungen dieses Texts basieren auf Erfahrungen aus der Arbeit als Künstlerin und Ausstellungsmacherin in der politischen Kunstszene Berlins, wie zum Beispiel zuletzt als Mitglied der nGbK Arbeitsgruppe „oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende“. Der Text baut auf der Text-Bild-Collage„Symposium“ auf, die 2014 mit Freja Bäckman entstanden ist.

[1] https://www.etymonline.com/word/curate und https://www.etymonline.com/word/cure?ref=etymonline_crossreference#etymonline_v_42912

curating is care

curating is care—on the conditions of care in practices of critical curating

was my contribution to Anna Schäffler, Friederike Schäfer, Nanne Buurman, AG Networks of Care, nGbK, (Eds.): Networks of Care. Politiken des (Er)haltens und (Ent)sorgens, Berlin, 2022

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curate (v.)

from Latin curatus, past participle of curare “to take care of”; see also: cure (v.); late 14c., “to restore to health or a sound state,” from Old French curer and directly from Latin curare “take care of,” hence, in medical language, “treat medically, cure”). Also: to “be in charge of, manage” a museum, gallery, art exhibit, etc. An earlier verb, curatize (1801) refers to the noun “(church) curate;” late 14c., “spiritual guide, ecclesiastic responsible for the spiritual welfare of those in his charge; parish priest,” from Medieval Latin curatus “one responsible for the care (of souls).1

if curating is care then care by whom, for whom, of what? if curating is care then how?

who takes care and of whom? the institution of the curators? the curators of the artists?
the artists of the institution?
all of the above but vice versa?

who takes care of protecting the time-space in which creation can happen? who takes care of the integrity of the works?

who takes care of the audience?
is to care to comfort or is to care also to challenge? does care show up as abundance?
or is showing less care?
what is the work of the viewer?

if care of the audience and care of the curators, care of the artists and care of the institution do not collapse neatly into each other—should one form of care take precedence over the other? whose care is privileged if care is a limited resource?
who decides?

what is the work of curating? is thinking work, is reading work, is going around listening to your thoughts settle work? how can its value be measured?

in the quantity of formats, of art works,
of visitors,
of twitter mentions,
of reviews?
or by the quality of the relationships a process of curating enabled? how to measure those?

who measures?
the producers? the audience? the institution? the funders?

is a work of curating successful if it leaves its makers depleted?

can criticism be caring?
and is it caring to aim for perfection?

can the work of taking care be made visible? which work and whose?

the work of cleaning the toilets or that of talking through the night until a particular problem has found its solution? the work it takes to take a deep breath when you want to fly off the handle, or the work it takes to get your breath back when another has done so?

which of these kinds of work are we paid for? how are we paid?
is pay care?

how is a fair rate of pay calculated? based on needs,
abilities,
qualifications,

the respective value assigned to different types of work by the so-called “free market”?

should the work of curating be paid the same as that of the artist, the flyer designer, the person at the ticket counter? is it care to pay everyone differently or to pay them exactly the same?
should someone be paid more if their work is incredibly boring?
should we be paid for the time it takes to replenish our own bodies?
who pays for the babysitter?

should we fight to increase the pay to fit the amount of work invested in an exhibition’s creation? or limit the amount of work we invest to the amount of pay available for it? do we have the courage to leave one wall empty?

what about payment in recognition?
in cultural capital?
in friendship? support?

with the promise of any of the above at some point in the future? with the joy of creation?

is it enough?
how can we be generous with ourselves and each other?

is agreeing to work for free or for little an act of care? is it a privilege? is it a duty? is a work still critical if it is paid for? is a work still critical if it is well paid for?

if i told you i was paid 150 euro before taxes for writing this text, and that it took me 8 hours, would you consider this adequate, too much, too little?
for this amount of pay should my text have been longer, shorter, more comprehensive or less so? would it make a difference if i said that to work on it has been a struggle, but also a pleasure?

should it matter?
how do we sit with the contradictions of the economies and the politics or our practice?

how can we conduct our work and our encounters as a practice of taking care of ourselves and each other? (and if my self-care comes at the expense of that of another—is it still caring? and vice versa?)

do we already know, or do we still have to learn what a work and a work context that cares looks like?

how do we learn together?

 

Elske Rosenfeld, born 1974 in Halle/S. (GDR), works in different media and formats. Her primary focus and material are the histories of state socialism, its dissidences, and the revolution of 1989/90. The questions of this text are based on experiences of working as an artist and exhibition maker in the political art scenes of Berlin, such as her most recent work as a member of the project “…oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende” at the nGbK/ such as most recently as a member of the nGbK working group “oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende”. The text also builds on the text- image-collage work “Symposium”, created in 2014 with Freja Bäckman.

 

1 https://www.etymonline.com/word/curate and https://www.etymonline.com/word/cure?ref=etymolI- ne_crossreference#etymonline_v_42912

In/visible – Karl-Marx-Allee’s Return to Legibility in Art

This text was produced for the project Treffpunkt: Karl-Marx-Allee (Meet-up at Karl-Marx-Allee)

The word “visible” remains visible within the word “invisible”. Cover up the “in”, and it appears. The prefix negates as much as it preserves.

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In 1968 the Czechoslovakian artist Július Koller retraced the white lines of a tennis court with white chalk in one of his artistic actions.[1] Once completed, his act of overwriting became invisible, but not without first doubling the space traced. By artistically (and invisibly) overwriting the tennis court, the artist made this everyday place legible in a new way: as a work of art.
The subject of invisibility pervades the history as well as the aftermath of Eastern Europe’s artistic underground, including that of the German Democratic Republic (GDR). In many art scenes, for example in Czechoslovakia after the suppression of the Prague Spring, the literal imperceptibility of actions in public space was both a political strategy and an artistic concept. Various forms of over-affirmation and working between the lines also played with INvisibility.
Meanwhile in the GDR, performance art and experimental film art practices were not recognised or categorised as art by the establishment and were hardly shown at all in official art exhibitions. Artists themselves often didn’t view ephemeral practices and artistically mediated forms of togetherness as art either, because they did not fit into the traditional artistic categories that persisted even in those circles considered non-conformist at the time. The unification of Germany in 1990 saw the GDR’s artistic practices fall into a renewed state of invisibility, this time even less strategic or intentional, in an overwriting of culture that made things disappear rather than duplicating their legibility.
GDR architecture also disappeared from many cityscapes after 1990. Post-unification artists and activists have documented this disappearance, marking or capturing threatened or already demolished buildings in their work. Itself an overwriting of previous architectures that were no longer considered contemporary, Karl-Marx-Allee has survived the course of GDR history and its erasure in Berlin’s urban space after 1990.
The GDR remains visible, indeed, hypervisible – and yet still invisible – on Karl-Marx-Allee. Here it is hidden in plain sight, or rather in hyper-visibility.

The street and its architectures are there to be seen, but who can still read and understand them? A West German viewer might see a type of architecture in which all floor plans are the same and assume that all residents were treated as equals here. An East German neighbour might know that the upper classes of the GDR once lived here, not necessarily richer than the rest of the country, but privileged in terms of the location of their homes. Who takes this representative project of the GDR at face value, and who knows of the conflicts and ideological battles it obscures? Who still recognises the names of those who lived here, many of them members of the GDR’s cultural elite? The street must be coaxed into telling its story. Without a mediating voice, it will remain silent.
The project Treffpunkt: Karl-Marx-Allee (Meet-up at Karl-Marx-Allee) sees three artists take on this mediating care-work. Thus Karl-Marx-Allee becomes a sort of inversion of Koller’s overwritten tennis court: a place that needs an artist’s touch in order for its original meanings to become legible.
All three parts of the project play with different formats of INvisibility: the walk, the projection, the performance, and the temporary installation are only visible for a short time and only live on as memories connected to their locations for those who witnessed them.
In her work Hier, Berolinastraße! (Here, Berolinastraße!), Ingeborg Lockemann examines the particular form of invisibility lived by lesbian women in the GDR. These women placed personal advertisements in which they gave terms from everyday life double meanings that could only be deciphered by those in the know. Ingeborg Lockemann’s plexiglass works engraved with these terms are also transparent, discreet, and hidden – visible, but perhaps easy to miss for anyone not in the know. Michaela Schweiger brings to the fore that which usually remains unseen in Wir, 2021 (We, 2021). For this work, residents have clothing tailor-made based on patterns from Sibylle, a magazine for fashion and culture founded in the GDR in 1956 and discontinued in 1995. Their hourly wages will be calculated in correlation to how much rent they pay, illuminating material conditions not usually on display: the cost of living and the value of an hour’s work.

The eponymous protagonist of Babette im Rosengarten (Babette in the Rose Garden) wanders the cityscape in a performance by Inken Reinert, revealing pieces of history before disappearing once more. Only the rosebushes arranged around Babette as props that briefly turn into art will remain. After the performance they will be given to residents. Stripped once more of their secondary meaning as art, they will return to their existence as rose bushes, nothing more.

[1] Július Koller, Time/Space Definition of the Psychophysical Activity of Matter 1 (Anti-Happening), 1968

Translation by Moira Barrett

Un/sichtbar – wie die Karl-Marx-Allee über Kunst wieder lesbar wird

Dieser Text enstand für das Projekt Treffpunkt: Karl-Marx-Allee (Meet-up at Karl-Marx-Allee):

Im Wort unsichtbar ist das Wort sichtbar noch sichtbar. Deckt man das UN ab, tritt es hervor. Das Präfix negiert und erhält zugleich.

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1968 zeichnete der tschechoslowakische Künstler Július Koller in einer seiner künstlerischen Aktionen[1] die weißen Linien eines Tennisplatzes mit weißer Kreide noch einmal nach. Einmal aufgebracht, war seine Überschreibung unsichtbar. Und verdoppelte doch gleichzeitig den Raum, den sie bespielt. Mit der (unsichtbaren) künstlerischen Überschreibung wurde der alltägliche Ort Tennisplatz ein zweites Mal lesbar – als künstlerische Arbeit.

Das Thema Unsichtbarkeit durchzieht die Geschichte (ebenso wie die Nachgeschichte) des künstlerischen Untergrunds in Osteuropa, auch in der DDR. In vielen Kunstszenen, zum Beispiel in der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, war die buchstäbliche Nicht-Wahrnehmbarkeit ihrer im öffentlichen Raum durchgeführten Aktionen für viele Künstler:innen politische Strategie und künstlerisches Konzept zugleich. Auch Formen der Überaffirmation und des „Zwischen den Zeilen“-Arbeitens spielten mit der UNsichtbarkeit.

In der DDR waren hingegen die Praktiken der Performance- und Experimentalfilmkunst für den offiziellen Kunstbetrieb nicht als Kunst zu erkennen und einzuordnen, sie tauchten in den offiziellen Kunstausstellungen kaum auf. Aber auch Künstler:innen betrachteten ephemere Praktiken und künstlerisch vermittelte Formen des Zusammenseins oft nicht als Kunst, weil sie mit dem auch in nonkonformen Szenen lange eher traditionellen Kunstbegriff nicht zu fassen waren. 1990 entließ der Beitritt der DDR zur BRD die künstlerischen Praktiken aus der DDR in eine erneute, diesmal noch weniger strategische oder selbst gewählte Unsichtbarkeit: eine kulturelle Überschreibung, die Lesbarkeiten nicht doppelt, sondern die Dinge verschwinden lässt.

Auch DDR-Architekturen verschwanden nach 1990 an vielen Orten aus dem Stadtbild. Künstler:innen und Aktivist:innen der Nachwende haben dieses Verschwinden dokumentiert oder die verschwundenen oder vom Verschwinden bedrohten Architekturen mit Aktionen markiert oder in ihren Werken festgehalten. Die Karl-Marx-Allee – selbst eine Überschreibung früherer Architekturen, die man als nicht mehr zeitgemäß ansah – hat die Austragung und Überschreibung von DDR-Geschichte im Berliner Stadtraum ab 1990 überlebt.

Auf der Karl-Marx-Allee ist die DDR noch sichtbar – hypersichtbar – und doch gleichzeitig unsichtbar. Hiding in plain sight, wie man auf Englisch sagt: versteckt in der Hyper-Sichtbarkeit.

Die Straße und ihre Architekturen sind zu sehen, aber wer kann sie lesen und verstehen? Die westdeutsche Betrachterin sieht vielleicht eine Architektur, in der alle Grundrisse ähnlich sind, und schließt daraus, dass alle Bewohner:innen gleichgestellt sind. Die ostdeutsche Nachbarin weiß vielleicht, dass hier die DDR-Oberschicht wohnte, nicht unbedingt reicher als der Rest, aber allein schon qua ihrer Wohnung an diesem Ort privilegiert. Wer nimmt das repräsentative Projekt der DDR für bare Münze, wer weiß um die Konflikte und Richtungskämpfe, die es überdeckt? Wem sagen die Namen der Menschen, die hier lebten, auch aus den kulturellen Eliten der DDR, heute noch etwas? Es braucht Vermittlung, damit die Straße sprechen kann; gibt es die vermittelnde Stimme nicht mehr, bleibt die Straße stumm.

Im Projekt Treffpunkt: Karl-Marx-Allee übernehmen drei Künstlerinnen diese vermittelnde Sorgearbeit. Die Karl-Marx-Allee ist also so etwas wie die Umkehrung von Kollers überschriebenem Tennisplatz: ein Ort, der einer künstlerischen Markierung bedarf, damit er wieder in seinen ursprünglichen Bedeutungsebenen lesbar wird.

Die drei Arbeiten des Projekts spielen dabei selbst mit Formaten der UNsichtbarkeit: der Spaziergang, die Projektion, die Performance, die temporäre Installation sind kurz zu sehen und leben danach – als mit den Orten verbundene Erinnerungen – nur für die Dabeigewesenen fort.

Ingeborg Lockemann beschäftigt sich in ihrer Arbeit Hier, Berolinastraße! mit einer besonderen Form der Unsichtbarkeit – jener von lesbischen Frauen in der DDR. So wählten Frauen in der DDR in ihren verklausulierten Kontaktanzeigen alltägliche Begriffe, die sie mit doppelten Bedeutungen belegten und die nur für Eingeweihte zu entschlüsseln waren. Die Schriftobjekte aus Acryl, die Ingeborg Lockemann aus diesen Begriffen gefertigt hat, sind ebenfalls durchsichtig, dezent, versteckt – zwar sichtbar, aber vielleicht für Uneingeweihte leicht zu übersehen. Michaela Schweiger holt mit Wir, 2021 in den Vordergrund, was sonst im Verborgenen bleibt: Wenn Anwohner:innen nach Entwürfen aus der 1956 in der DDR gegründeten und 1995 eingestellten Zeitschrift für Mode und Kultur Sibylle Kleidungsstücke nähen lassen, bei denen ihre Miete in Arbeitsstunden umgerechnet wird, werden die normalerweise unsichtbaren materiellen Verhältnisse ausgestellt: Was kostet das Wohnen, wie viel ist die Arbeitszeit wert? Die Figur der Babette im Rosengarten spaziert in der von Inken Reinert konzipierten Performance durch die Stadtlandschaft, lässt Geschichte aufscheinen, verschwindet dann wieder. Nur die um die Protagonistin aufgestellten Rosenstöcke, Requisiten, die kurzzeitig Kunst werden, bleiben. An Nachbar:innen verschenkt, werden sie wieder Rosenstöcke, rückgeführt ins alltägliche Leben, minus der Kunst.

Geschichtspolitik von oben?

Mein Text Geschichtspolitik von oben? Gedanken zum geplanten Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit ist im Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Ich nehme dort noch mal die Planung eines solchen Zentrums zum Anlass einer Befragung des Standes der Aufarbeitung der DDR- und Wende-Geschichte und ihrer Institutionen. Ich plädiere, anhand einer Neubewertung ostdeutscher Protestgeschichte ab 1989, dafür, die von allen (und insbesondere den vom Nationalismus und Rassismus der Nachwendejahre zusächlich belasteten migrantischen oder nicht-weißen) Ostdeutschen erbrachten Leistungen und erlittenen Verletzungen einer angemessenen Aufarbeitung zu unterziehen – und zwar “von unten”.

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Wie eine Einheit feiern, deren Erfolg seit einigen Jahren durch unüberhörbaren Unmut in Ostdeutschland zumindest diskussionswürdig erscheint? Vor dieser Aufgabe stand 2020 die vom Bundesinnenministerium eingesetzte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”. Die Idee der Kommission, die bevorstehenden Jahrestage vor allem auch zum Anlass einer Untersuchung der Stimmungslage in Ostdeutschland zu nehmen und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung zu entwickeln, um bestehende Defizite beim Zusammenwachsen abzubauen, war darauf sicher nicht die schlechteste Antwort. 22 Mitglieder aus Politik, Kultur und Wissenschaft gehörten ihr bis Ende 2020 an, 65 Millionen Euro umfasste der Etat für zwei Jahre.

In ihrem Abschlussbericht,[1] den sie am 7. Dezember 2020 in der Bundespressekonferenz vorgestellt hat, bezeichnet die Kommission die deutsche Einheit nun als zumindest unabgeschlossen. Die Autor*innen machen sich stark dafür, „Defizite und Fehlentwicklungen“ im Einheitsprozess zu benennen und „die Debatte über Stand und Zukunft der inneren Einheit unseres Landes auf eine neue Grundlage“ zu stellen. Sie konstatieren, dass Folgeprobleme der Einheit, wie Arbeitslosigkeit und Abwanderung, unter Ostdeutschen zu „Aussichts- und Hoffnungslosigkeit“, politischer und gesellschaftlicher „Verdrossenheit“ und „Entfremdung“ geführt haben. Sie problematisieren die fehlende Sichtbarkeit und Würdigung der Lebensleistungen Ostdeutscher und ihre Unterrepräsentanz in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Führungspositionen.

Mit ihren Handlungsempfehlungen wollte die Kommission diesen Missständen gegensteuern. Ein Kernstück der Empfehlungen, die am 8. Dezember 2020 auch öffentlich zugänglich online publiziert wurden, ist die Einrichtung eines „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ in Ostdeutschland, als Ort der „praxisorientierten Auseinandersetzung mit Geschichte.“ In einem interdisziplinären Kompetenzzentrum, eingerichtet in einem „identitätsstiftenden“ Gebäude in Ostdeutschland, sollen die Leistungen und Erfahrungen der Ostdeutschen in der Transformation verarbeitet und für die Zukunft nutzbar gemacht werden. Das Zentrum soll ein wissenschaftliches Institut, ein Dialog- und Begegnungszentrum und ein Kulturzentrum umfassen, Preise und Stipendien vergeben, Konferenzen und Ausstellungen ausrichten und Formen des Austauschs im und jenseits des Zentrums organisieren.

Das Bundeskabinett griff die Handlungsempfehlungen der Kommission im März 2021 auf und setzte neben einer am Bundesinnenministerium angesiedelten Lenkungsgruppe eine achtköpfige Arbeitsgruppe ein, die schon bis Ende Juni 2021 ein „detailliertes Konzept“ zu den Aufgaben und Arbeitsweisen eines solches „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ erstellen soll.[2] Zu Mitgliedern dieser AG wurden berufen: Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der parlamentarische Staatssekretär und Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), die SPD-Politikerin Katrin Budde aus Sachsen-Anhalt, der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU), der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen, die Demokratieforscherinnen Astrid Lorenz aus Leipzig und Gwendolyn Sasse aus Berlin sowie der Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, der Politologe und Publizist Basil Kerski.

Mein Text soll die Potenziale, aber auch mögliche Fallstricke einer solchen Einrichtung aufzeigen. Auf welche geschichts- und diskurspolitische Situation reagiert der Vorschlag für dieses Zentrum? Auf welche Defizite in der bisherigen Aufarbeitung ostdeutscher Transformationsgeschichte will, kann oder müsste es reagieren? Welche Formen der Umsetzung des Vorschlags wären einer solchen Aufgabe angemessen? Welche Fehler in der bisherigen staatlichen Aufarbeitungspolitik gilt es zu vermeiden?

Ich nähere mich diesen Fragen im Folgenden aus der Perspektive meiner eigenen langjährigen forschenden und künstlerischen Beschäftigung mit der Geschichte der Revolution von 1989/90 und ihrer Vor- und Nachgeschichte und verstehe diesen Text als Anregung und Beitrag zu einer hoffentlich regen Diskussion zu dem vorgeschlagenen Zentrum und seinen Themen.

 

Zwischen Currywurst und Spitzelstaat: Darstellungen von DDR-Geschichte und -biographien bis 2014

Der durch die Coronapandemie in den Medien weitgehend untergegangene Bericht der Kommission ist zunächst Zeugnis und sicher auch Produkt einer Öffnung und Diversifizierung des Umgangs mit ostdeutscher Geschichte und ostdeutschen Biographien. Noch die Feierlichkeiten des letzten größeren Jubiläums von „Mauerfall und deutscher Einheit“ in den Jahren 2014/15 bewegten sich irgendwo zwischen „Trabbi, Mauer und Currywurst“ auf der einen und Unrechtsstaat und Diktatur auf der anderen Seite[3] und verdeutlichten damit auch den Stand der Debatte zur DDR-Geschichte. Wenn über die DDR gesprochen oder zur DDR geforscht wurde, geschah dies ab 1990 entlang eines aus dem Kalten Krieg übernommenen binären Erzählmusters: hier der freiheitliche Westen als Normalität, dort der totalitäre, repressive Staatsozialismus als historischer Irrweg, der 1989 glücklich und endgültig überwunden wurde. Viele Ostdeutsche – von denen zu diesem Zeitpunkt laut Umfragen 74 Prozent den Sozialismus für „eine gute Idee, die nur schlecht umgesetzt wurde“[4] hielten – fanden sich in einer solchen Erzählung aber nicht wieder. Ihre Lebensleistungen ließen sich in einer auf Repression und Widerstand reduzierten Geschichte weder würdigen noch überhaupt erst einmal erzählen. In den westdeutsch dominierten Medien tauchten ostdeutsche Leben als Klischees auf – oder gar nicht. [5] Es entstand der „Eindruck” – wie es die Kommission zurückhaltend formulierte –, dass die Ostdeutschen in der öffentlichen Debatte nicht angemessen vorkämen. Und wer meint, durch den starken Fokus auf das Thema Stasi wäre wenigstens die Aufarbeitung dieses einen Themas gelungen, sei an den heftig geführten Streit um die Ernennung Andrej Holms zum Staatssekretär für Wohnen in Berlin 2017 erinnert, der eindrücklich zeigte, dass der gegenwärtige Stand der Debatte sich eher für tagespolitische Instrumentalisierungen als für eine tatsächliche Verständigung jenseits simpler Opfer-Täter-Schemata eignet.[6]

Es ist bitter, dass es scheinbar erst die ab 2015 von Pegida und AfD betriebene Skandalisierung und Funktionalisierung ostdeutscher Fehlentwicklungen brauchte, um eine breitere Debatte zu und Neubewertung der Transformation in Ostdeutschland zu erzwingen. Es ist daher ein wichtiger Schritt nach vorne, dass sich die Kommission mit ihrem Bericht und ihren Vorschlägen der ostdeutschen „Entfremdung und Verdrossenheit“ jetzt annimmt und diese „klar zu benennen und ihnen möglichst umfassend entgegenzuwirken“ als eine zentrale gesamtgesellschaftliche und staatliche Aufgabe verstanden wissen möchte.

Eine solche Neubewertung müsste aber notwendigerweise mit einer kritischen Befragung der bislang verwendeten Begriffe und Narrative anfangen. So erweist sich, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte, schon das Reduzieren des Umbruchs und der Transformation in Ostdeutschland ab 1989 auf den Begriff der „deutschen Einheit“ für eine Würdigung der, auch demokratischen, Leistungen der Ostdeutschen und eine Bewertung ihres politischen Engagements und Interesses als unzureichend.

 

Transformationsgeschichte ist Revolutionsgeschichte: Die Revolution von 1989/90 als unvollendete demokratische Ermächtigung erzählen

 

Im April 2019 sprach die Bundesregierung in ihrem Einsetzungsbeschluss zur „Durchführung der Feierlichkeiten ‚30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit‘“ davon, dass diese „Jubiläumsjahre“ auch dazu dienen sollten, ein „Bewusstsein“ dafür zu schaffen, „dass die Deutsche Einheit ein Prozess ist, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Jubiläumsjahre sollen das gemeinsame und gegenseitige Verständnis für die Leistungen fördern, die zur Wiedervereinigung geführt haben und für das Zusammenwachsen von Ost und West erbracht wurden“.7 Doch damit blieben erneut all jene Aspekte und Hoffnungen des Umbruchs von 1989/90 unerwähnt, die über die Übernahme der „real existierende[n] Demokratie vom Rhein“ hinausgingen, wie sie Joachim Gauck einmal definierte.8 Eine solche Erzählung der Revolution von 1989/90 entlässt deren Akteur*innen nicht als Träger einer radikalen und alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifenden kollektiven Selbstermächtigung in die Post-Revolution, sondern als „Lehrlinge“9 oder – buchstäblich – als Kinder.10 Sie setzt so den Ton für genau jene eigentlich kritisierte Herabwürdigung von Ostdeutschen, welcher die Kommission mit dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte.

Es ist insofern ein gutes Zeichen, dass sich die Kommission 2019/20 entschied, die Liste der zu feiernden Ereignisse um eine Reihe weiterer „Meilensteine”, darunter auch das Gründungstreffen des Neuen Forums im September und die Montagsdemonstrationen am 9. Oktober 1989, zu ergänzen.

Ein solches erweitertes Verständnis der Revolution von 1989/90 sollte sich entsprechend auch in der von der Kommission vorgeschlagenen Würdigung der Transformationsleistungen der Ostdeutschen niederschlagen. Forschung und Dialog im geplanten Zentrum sollten sich, neben der Geschichte von 1989/90 als Einheitsgeschichte, auch dessen annehmen, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Viele der Vorschläge der damals Engagierten für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung oder für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit, sind auf dem eher westdeutsch dominierten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben – erscheinen aber 30 Jahre später so aktuell wie hellsichtig.11

 

Kein Gejammer: Ostdeutsche Protestgeschichte ab 1989

Mit einem solchen erweiterten Ansatz ließe sich anerkennen, dass die post-DDR-Bürger*innen ihre Transformationsleistungen nicht nur unter dem Vorzeichen des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens, sondern auch jenes Möglichkeitsraums erbracht haben, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Die massive ostdeutsche Protestbewegung der frühen 1990er Jahre ließe sich, statt sie als typisches „Jammerossitum“ abzutun, in Kontinuität mit einem demokratischen Selbstbestimmungsanspruch untersuchen, der nach dem 3. Oktober 1990 nicht erlosch, sondern nun vielmehr auf die neuen Verhältnisse angewendet wurde.[7] Circa 150 bis 200 Streiks, Betriebsbesetzungen und andere Proteste pro Jahr zwischen 1991 und 1994[8] müssten in diesem Sinne nicht als eine „zweite Revolution im Osten“,[9] sondern als Fortsetzung der ersten analysiert werden.[10]

Die Enttäuschung vieler Ostdeutscher nach 1990 entspringt auch der großen Fallhöhe zwischen ihrem 1989 erlernten demokratischen Anspruch und der von der Treuhand propagierten Politik wirtschaftlicher Sachzwänge. Statt die begonnenen demokratischen „Experimente“ zu verstetigen, wurde der Osten nun zu einem Labor einer so in Europa noch nie gesehenen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft,[11] die – teils bis heute – als alternativlos deklariert wird. Die demokratischen Defizite einer solchen „Transformation von oben“12 müssen in dem geplanten Zentrum diskutierbar werden, wenn die von der Kommission gewünschte Anerkennung ostdeutscher Enttäuschungen und Verletzungen gelingen soll. Der für das Zentrum vorgeschlagene osteuropäische und transnationale Rahmen könnte sich hier als hilfreich erweisen. Die Geschichten der oft erfolgreicheren osteuropäischen Alternativen sind gut geeignet, die behauptete Unumgänglichkeit der ostdeutschen Schockprivatisierung zu überprüfen.[12]

Auch die Frage nach der Politverdrossenheit der Ostdeutschen und ihrem vermeintlich fehlenden politischen Engagement, dem „geringe[n] Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen“, die den Bericht und die Vorschläge der Kommission durchzieht, ließe sich so jenseits abwertender Stereotype noch einmal anders und produktiver darstellen. Die signifikante Protesterfahrung der Ostdeutschen, die sich nach 1990 nicht nur in den Anti-Treuhandprotesten (1991-94), sondern auch in Montagsdemonstrationen gegen den Irakkrieg (2003) und gegen Harz IV (2004) manifestierte, könnte als Zeichen eines durchaus vorhandenen, aber als wenig wirkmächtig erlebten, spezifisch ostdeutschen politischen Engagements untersucht und gewürdigt werden. So ließe sich auch der 2014 begonnenen Aneignung ostdeutschen Protests durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten begegnen.

 

Gegen eine rechte Vereinnahmung: Nationale Narrative feiern oder hinterfragen?

Es ist gut, dass die Kommission diese Aneignung und Mobilisierung ostdeutscher Frustrationen problematisiert und ihr mit ihren Vorschlägen und in dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte. In Zeiten, in denen gerade im Osten zivilgesellschaftliches Engagement oft mittels einer kruden Rechts-Links-Gleichsetzung diskreditiert und finanziell eher entwertet als gefördert wird, könnte das Zentrum so tatsächlich gegensteuern und ein wichtiges Zeichen setzen.

Der Bericht der Kommission wirft aber Fragen auf, wenn er seine Vorschläge, auch die für das Zukunftszentrum, mit einem Aufruf zu einem stärkeren deutschen Nationalbewusstsein, einem „positiven demokratischen Patriotismus“, einem „heiteren Feiern“ des Nationalen verbindet. Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern, noch überdeutlich anzumerken ist.

So leisten der Bericht und seine Vorschläge einem Feiernationalismus Vorschub, der schon in den 1990er Jahren nicht als harmloses Wohlfühldispositiv funktioniert hat. Westdeutsche mit türkischen Wurzeln[13] und Schwarze (Ost)deutsche[14] haben damals erleben müssen, wie sie aus dem gemeinsamen Feiern der Revolution im Osten in dem Maße ausgeschlossen wurden, wie daraus das nationale Projekt der sogenannten deutschen Wiedervereinigung[15] wurde. Die Kommission wiederholt diese Ausschlüsse nun in Inhalt und Form. Die nahezu rein „biodeutsche“ Zusammensetzung der Kommission zieht aus meiner Sicht auch inhaltliche Schieflagen nach sich. So fehlt mir im Bericht die Anerkennung der Tatsache, dass sich auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Vertragsarbeiter*innen, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, in der post-DDR ein neues Leben aufbauten. Ihre Lebensleistungen gehören aber zur ostdeutschen Transformationsgeschichte, ebenso wie ihre Erfahrungen mit Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen befördert und von drastischen Einschränkung des deutschen Asylrechts flankiert wurde. Diese Zusammenhänge zwischen dem Wiedererstarken nationaler Narrative ab 1990 und dem, was in den letzten Jahren unter dem Hashtag „Baseballschläger-Jahre“ diskutiert wurde, gehören unbedingt in das Themen- und Forschungsspektrum des geplanten Zentrums, finden aber in Bericht und Vorschlägen keine entsprechende Berücksichtigung.

Die fehlende Sensibilisierung und Expertise zu migrantischen Perspektiven schlägt im Bericht leider noch an anderen Stellen negativ zu Buche. So werden Forderungen für mehr Engagement gegen „Fremdenfeindlichkeit“ in den Handlungsempfehlungen mit der Notwendigkeit begründet, (ausländische) „Talente“ nicht zu verprellen. So knüpft man das Recht von Menschen, nicht rassistisch beleidigt oder angegriffen zu werden, an das Erbringen wirtschaftlicher Leistungen. Und wenn die Notwendigkeit, „Zugewanderte“ mit den kulturellen Aktivitäten des Zukunftszentrums zu „erreichen“, damit begründet wird, für diese sei „die Verinnerlichung der europäischen Werte von hoher Bedeutung”, unterstellt das implizit, dass ihnen diese Werte prinzipiell fremd oder äußerlich wären. Solch eine Formulierung ist besonders problematisch, wenn man bedenkt, dass Geflüchtete Europa und seinen praktizierten Werten aktuell häufig als allererstes in Form eines gewaltvollen und oft tödlichen europäischen Grenzregimes begegnen. Hier sollte sich die Bundesregierung bei der weiteren Planung des Zentrums dringend sensibilisieren und die nötige Expertise einholen.

 

Wi(e)der eine Geschichtspolitik von oben? Zur Form des Zentrums und seiner Planung

Das wirft die grundsätzlichere Frage auf, was es heißt, die vorgeschlagene staatliche Förderung von Forschen und Erinnern an eine zentrale Einrichtung und einen repräsentativen Auftrag zu binden. Die Kommission sieht den Vorteil des geplanten zentralen Ansatzes in der Bündelung von Kompetenzen und Aufgaben und der so möglichen Intensivierung des Austauschs. Es ist nachvollziehbar, dass sie so zwischen den sehr unterschiedlichen, teils antagonistischen Narrativen zum und im Osten vermitteln möchte. Aber eine solche Zentralisierung und staatliche Lenkung des Erinnerns birgt auch Gefahren.

Die Sensibilität gegenüber Versuchen einer staatlich gelenkten Geschichtsdeutung oder gar Belehrung oder Umerziehung ist im Osten zu Recht groß.[16] Die Transformationsleistungen, die im Zentrum gewürdigt werden sollen, sind von Ostdeutschen von unten und oft entgegen staatlicher Politiken erbracht worden. Dem gilt es, auch in der Form ihrer Aufarbeitung Rechnung zu tragen. Das Bemühen darum ist dem Vorschlag an vielen Stellen anzumerken. Aber es gerät in Konflikt mit dem bereits erwähnten Primat einer prinzipiell positiven Bewertung der Deutschen Einheit. Was passiert mit Stimmen, die ihre Kritik nicht in ein solches Narrativ vereinnahmt wissen wollen? Kritischen Stimmen innerhalb der Arbeit des Zentrums Raum zu geben, ist nötig und wichtig, aber es braucht auch eine kritische und gleichberechtigte Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und anderen Ansätzen, Akteur*innen und Institutionen. Wenn das Zentrum das Erinnern und die Forschung zur Transformation auf die im Bericht anklingende Weise an einen staatlichen Auftrag bindet, dann könnte es im Hinblick auf die geforderte größere Vielfalt möglicherweise mehr Schaden anrichten als helfen. Fatal wäre zum Beispiel, wenn anderen Akteur*innen im Zuge der Einrichtung des Zentrums Gelder zur Bearbeitung vergleichbarer Themen entzogen oder Projektanträge bei anderen, offeneren Förderungen mit Verweis auf dessen Existenz abgelehnt würden.

Genau diese Wirkung ist in den vergangenen Jahren aber bereits einem prominenten ostdeutschen Erinnerungsprojekt vorgeworfen worden: der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.[17] Ihre Geschichte bietet ein wichtiges Beispiel für die Probleme, die mit an einen staatlichen Auftrag geknüpften Aufarbeitungsprojekten einhergehen können. Die Stiftung wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter (Enquete-)Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist. Sie hat so maßgeblich zu der oben beschriebenen, von vielen Ostdeutschen als zu eng empfundenen Ausrichtung der DDR-Geschichtsschreibung beigetragen. Der DDR-Bürgerrechtler und Historiker Thomas Klein hat im Herbst 2020 beschrieben, wie kleinere und prekärere nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung aus bürgerbewegten Kreisen, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollten, sich entweder in Antizipation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten.[18] Auch der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – eine der bekanntesten Stimmen der bisherigen DDR-Aufarbeitung und zeitweise Mitglied der Kommission – hat der Stiftung in der Vergangenheit eine „Monopolisierung und Verstaatlichung der DDR-Forschung“ vorgeworfen.[19] Problematisch ist hier also nicht der inhaltliche Fokus auf Repression und deren Opfer an sich, sondern dass dieser durch die privilegierte Stellung der Stiftung den Platz einer breiter gefächerten DDR-Aufarbeitung einnimmt.

Die Bundesregierung und die mit der Planung des Zentrums Beauftragten sollten auf diese Vorerfahrungen achten und deutlicher als im vorliegenden Bericht erklären, wie man vergleichbaren Prozessen in Bezug auf das geplante Zentrum vorbeugen und eine diverse und kontroverse Debatte zur Aufarbeitung der Nachwende innerhalb und jenseits des geplanten Zentrums gewährleisten möchte.

 

Fazit: Von der Aufarbeitung in die Debatte

In einem Interview anlässlich seiner Amtseinsetzung 2017 lehnte der Berliner Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Tom Sello, die Forderung nach einer Aufarbeitung der Verwerfungen der Nachwendezeit noch mit der Begründung ab, dies sei nicht Aufgabe eines Beauftragten, sondern Gegenstand der „politischen Auseinandersetzung“ und einer „demokratisch legitimierte[n] politische[n] Willensbildung und Entscheidungsfindung“.[20] Doch was ist Aufarbeitung, wenn sie letzteres nicht ist? Und was heißt es, wenn nun doch auch die Geschichte ab 1990 zum Gegenstand vergleichbarer staatlicher Erinnerungspolitiken gemacht wird?

Im Idealfall könnten neu ausgerichtete Fördermechanismen dazu beitragen, Ostdeutsche endlich vom Objekt zum Subjekt von Geschichtsschreibung und Zukunftsplanung werden zu lassen. Forschung und kulturelle Programme könnten die Erfahrung von Revolution und Transformation zum Ausgangspunkt einer kritischen Befragung des krisenbehafteten Heute machen.

Um der Idee einer Einrichtung gerecht zu werden, die nah an den Lebenserfahrungen der Ostdeutschen angesiedelt wäre, sollte die Debatte zur Ausrichtung und Gestaltung eines solchen Zentrums allerdings nicht, wie aktuell geplant, nur von einer kleinen, vom Bundesinnenministerium eingesetzen Arbeitsgruppe, sondern von einer breiten Öffentlichkeit geführt werden. Dem Zentrum eine Form zu geben, die ihrem inhaltlichen Fokus, der Transformationsleistung der Ostdeutschen, entspräche, hieße, seine Planung und das Gespräch zu den damit verbundenen Wünschen und Befürchtungen möglichst öffentlich, möglichst ergebnisoffen und möglichst „von unten“ zu gestalten. Mein Text versteht sich als Beitrag – auch Aufruf – zu einem solchen Austausch.

 

Bio-Bibliografie des Autors / Der Autorin

Elske Rosenfeld (geb. 1974, Halle/S.) forscht als Künstlerin, Autorin und Kulturarbeiterin zur Geschichte der Dissidenz in Osteuropa und zu den Ereignissen von 1989/90.  In ihrem aktuellen künstlerischen Forschungs- und Buchprojekt „A Vocabulary of Revolutionary Gestures” untersucht sie den Körper als Austragungsort und Archiv politischer Ereignisse.

 

[1] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”, Berlin, 7.12.2020.

[2] Bundesregierung, Stellungnahme zum ‘Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Drucksache 19/28060, 23.3.2021. Behandelt im Bundeskabinett am 17.3.2021, TOP 4, https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/kabinettssitzungen/themen-im-bundeskabinett-ergebnisse-1877668, zuletzt aufgerufen am 05.6.2021.

[3] Siehe: 25 Jahre Deutsche Einheit, http://www.mauerfall-berlin.de/deutsche-einheit/25-jahre-deutsche-einheit-2015/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[4] Vgl.In deutschen Köpfen: Wie Ost und West seit der Einheit denken, Statistiken 1991 bis 2010www.zeit.de/gesellschaft/deutschland-ost-west-umfragen.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[5] Diese mediale (Nicht-)Behandlung ostdeutscher Themen ist in den letzten Jahren vielfach problematisiert worden; siehe z.B. Stefan Locke, Wie aus dem Kongo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wie-berichten-medien-ueber-ostdeutschland-16981516.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[6] Vgl. Elske Rosenfeld, Zur „Causa Holm”, Teil 1, auf: Dissidencies (blog), 20.12.2016, http://dissidencies.net/causa-holm-1/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.
7 Vgl. Fußnote 2, Abschlussbericht, S. 106.

[6] Vgl. Deutscher Bundestag – Rede von Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 9.11.1999, https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/gorbatschow/gauck-247418, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

9 Ebd.

10 Boris Buden beschreibt diesen Vorgang in Zone des Übergangs: Vom Ende des Postkommunismus, Frankfurt/M. 2009, S. 34, wie folgt: „Menschen, die in den demokratischen Revolutionen 1989/90 gerade ihre politische Reife bewiesen haben, sind über Nacht zu Kindern geworden!”.

11 Vgl. Elske Rosenfeld, Noch einmal eintauchen in die Zeit der Wende, in: Der Tagesspiegel, 7.3.2019, https://www.tagesspiegel.de/kultur/haus-der-berliner-festspiele-noch-einmal-eintauchen-in-die-zeit-der-wende/24073106.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

12 Vgl. zur Begrifflichkeit der Transformation „von oben“ Michael Frisch/Michael Wyrwich, Ein langer Weg – Anpassungsprobleme in der ostdeutschen Unternehmenslandschaft, in: bpb-Dossier: Lange Wege der Deutschen Einheit 13.5.2020, https://www.bpb.de/47208, zuletzt aufgerufen am 08.5.2021.

13 Vgl. Jörg Roesler, Die Kurze Zeit der Wirtschaftsdemokratie. Zur „Revolution von Unten” in Kombinaten und Betrieben der DDR während des 1. Halbjahres 1990, Berlin 2005, S.46 f.

14 Dietmar Dathe, Streiks und Soziale Proteste in Ostdeutschland 1990 – 1994. Eine Zeitungsrecherche von Dietmar Dathe, Berlin, Dezember 2018, https://geschichtevonuntenostwest.files.wordpress.com/2019/02/dathe_streik-und-protest-ostdeutschland_final_1_17-mb.pdf, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

15 Diese Formulierung benutzt der Moderator eines TV-Interviews mit Detlev Karsten Rohwedder in Bezug auf die Proteste im Frühjahr 1991 – zu sehen in der Netflix-Dokuserie „Rohwedder: Einigkeit und Mord und Freiheit“ (2020).

16 Auch Klaus Wolfram, u.a. Vertreter des Neuen Forums am Zentralen Runden Tisch, benennt die Proteste gegen die Schließung des Kaliwerks in Bischofferode 1993 als eigentliches Ende der Revolution von 1989/90; siehe: Klaus Wolfram/Elske Rosenfeld/Jan Wenzel, Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen, Berlin 2020, https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/die-institution/publikationen/publikationen.html, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

17 Vgl. hierzu: Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009, S.41.

18 Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler bezeichnet es als „Paradoxon“, dass das deutsche Transformationsmodell, trotz wesentlich besserer Ausgangsbedingungen, im osteuropäischen Vergleich, gemessen z.B. am Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer, eher mittelmäßig abschneidet. In: Das ostdeutsche Paradoxon, Berlin 2016, S. 43.

19 Siehe z.B. Interviews mit türkischstämmigen Westberlinern in Can Candan’s Dokumentarfilm Duvarlar-Mauern-Walls (2000).

20 Interview mit Peggy Piesche über Lesben in der DDR: „Sichtbarkeit kann niemals nur die eigene sein“, in: Mädchenmannschaft (blog), 26.5.2015, https://maedchenmannschaft.net/interview-peggy-piesche-lesben-in-der-ddr-sichtbarkeit-kann-niemals-nur-die-eigene-sein/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

21 Bei einem öffentlichen Gespräch im Sommer 2019 im FXHB Friedrichshain-Kreuzberg Museum erinnerte die Kulturwissenschaftlerin und Aktivistin Peggy Piesche daran, dass der Begriff „Wiedervereinigung“ sich 1990 direkt auf Nazi-Deutschland vor der Teilung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezog.

22 Siehe z.B. Leserkommentare unter meinen Beitrag zum Thema in der Wochenzeitschrift Der Freitag: Elske Rosenfeld, Transformation – Post-DDR-Geschichte wird gemacht’, 17.2.21, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/post-ddr-geschichte-wird-gemacht, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

23 Ilko Sascha Kowalczuk, Historikerstreit über DDR-Forschung: Die Aufarbeitung ist gescheitert, in: Die Tageszeitung, 20.4.2016, http://www.taz.de/!5293270/, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

24 Thomas Klein, Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, telegraph (blog), 29.10.2020, https://telegraph.cc/erinnerungen-an-eine-revolution-oder-geschichte-einer-entfremdung/ zuletzt aufgerufen 21.4.21.

25 Kowalczuk, Historikerstreit über DDR-Forschung.

26 Thomas Rogalla, Interview mit Tom Sello: „Das Beste an der DDR war ihr Ende“, in: Berliner Zeitung, 27.11.2017, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/interview-mit-tom-sello–das-beste-an-der-ddr-war-ihr-ende–28956728, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

Harun Farocki’s “Hard Selling” reframed

Our booklet HaFI 014: Harun Farocki: Hard Selling: Reframed by Elske Rosenfeld (Deutsch/ English) is out now. It contains the script and stills from Harun Farocki’s film project “Hard Selling” which I respond to in my text-image commentary “Das Fenster / The Window.” The film was supposed to be shown on East German TV – one month before its dissolution at the end of 1991. It was, however, never completed. In the footage Farocki looks at a West German adidas salesman as he looks at the East through car and shop windows. In my commentary, I look back at both from a post-East perspective.
The booklet is available at Motto.

Post-DDR-Geschichte wird gemacht

Ende Dezember 2020 habe ich bei Fazit im Deutschlandfunk Kultur mit Vladimir Balzer über das geplanten „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ gesprochen. Ich habe dazu im Nachgang noch ein paar ausführlichere Gedanken formuliert – weil mir eine kritische Debatte zu der geplanten erneuten Institutionalisierung der post-DDR-Aufarbeitung sehr wichtig erscheint. Der Text ist jetzt im Freitag erschienen:

Im April 2019 fiel dem deutschen Innenminister Horst Seehofer ein, dass 2020 das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung anstand. Kurzfristig wurden 61 Millionen Euro mittels eines Mechanismus bereitgestellt, der normalerweise Naturkatastrophen und anderen Unvorhersehbarkeiten vorbehalten ist.

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Die rasch zusammengestellte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit – in der übrigens keine (!) einzige (!) nicht-biodeutsche Person zu finden ist – nahm wenig später die Arbeit auf. Diese schloss ihre Arbeit Anfang Dezember 2020 aber, auch Dank Corona, nicht mit den üblichen Feierlichkeiten, sondern mit einem Thesenpapier ab, das sich als ein Bericht zum Stand der Einheit und als Handlungsempfehlung versteht.

Kernstück der Vorschläge ist die Erschaffung eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, möglichst in einem zukunftsweisenden Gebäude, möglichst in der ostdeutschen Provinz. So ein Zentrum solle die Lebensleistung und Umbruchserfahrung der Ostdeutschen würdigen und nutzbar machen für kommende Transformationsprozesse. Das wäre sicher ein Schritt nach vorn. Die Lebensläufe der Ostdeutschen galten im vereinigten Deutschland bislang vor allem als defizitär. Lebensleistung im Osten vor 1989 galt als verdächtig, nach 1990 bestand sie vor allem in einer möglichst reibungslosen Anpassung an das neue System. Ein Perspektivwechsel wäre hier überfällig. Möglich, dass so ein Zentrum ihn leisten will. Doch was würde ein solcher bedeuten und wie könnte eine Institution aussehen, die ihn tatsächlich leisten kann? Die Blickrichtung wechseln hieße, die Erfahrungen des Lebens in der DDR und in der Revolutions- und Transformationszeit nicht nur als Objekt der Beforschung, sondern als Ausgangspunkt einer Befragung des Westens und des neoliberalen Heute zu nehmen – auf seine Widersprüche, sein permanentes soziales, demokratisches, ökologisches Scheitern hin. Es hieße auch, sich dem zuzuwenden, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Das ist an erster Stelle die radikale demokratische Selbstermächtigung der ostdeutschen Revolutionärinnen – weit über westliche repräsentative Formen der Demokratie hinaus. Das sind auch die Vorschläge der Runden Tische für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung, für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit. All dies waren Transformationsvorschläge, die in dem dann vornehmlich von westdeutschen konservativen und neoliberalen Akteurinnen gestalteten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben sind. Viele von ihnen erscheinen 30 Jahre später so hellsichtig wie aktuell.

Die Transformationsleistung der post-DDR-Bürgerinnen fand ab 1990 also unter dem Vorzeichen nicht nur des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens statt, sondern auch jenes Möglichkeitsraums, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Stattdessen wurde der Osten mittels der Treuhandanstalt zu einem Labor der anderen Art: einer in Geschwindigkeit und Umfang in Europa einzigartigen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft. Die ostdeutsche Transformationsgeschichte ist deshalb auch eine des Protests. Die Treuhand-Doku „Rohwedder“ rief die mit diesen vergessenen Kämpfen verbundene westdeutsche Angst vor einer „zweiten Revolution“ im Osten vor kurzem eindrucksvoll in Erinnerung. Die Revolution von 1989/90 endete also – nicht immer friedlich – in der als alternativlos kommunizierten Verheerung tausender Arbeitsbiographien und der Niederschlagung jedes Dissens’. Für eine Aufarbeitung in dem geplanten Zentrum wirft all dies Fragen an das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie auf, auf die das Bild des vermeintlich so demokratieunfähigen Ossis nicht nur die falsche, sondern überhaupt keine Antwort ist. Die Fragen anders zu stellen, wäre der Punkt. Transformationsgeschichte, wie im Titel des geplanten Zentrums angedeutet, (ost)europäisch zu denken, wäre sicher ein Beitrag hierzu. Die post-sozialistische Transformation lässt sich innerhalb einer transnationalen osteuropäischen Geschichte, in der sich durchaus erfolgreichere Alternativen zur deutschen Treuhandpolitik finden lassen, besser verstehen.

Aber auch die deutsche Transformationsgeschichte ist weder rein ost- noch rein biodeutsch. Eine vergleichbare Neuorganisation ihrer durch Deindustrialisierung, Liberalisierung und Sozialrückbau zunehmend präkarisierten Leben wurde wenig später auch Bergarbeitern und Stahlwerkerinnen im Ruhrpott und anderswo abverlangt. Und auch Migrantinnen und nicht-Biodeutsche, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, bauten sich neue Leben auf. Nur taten sie dies noch dazu unter den gewaltvollen Bedingungen eines grassierenden Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen ermöglicht und befördert worden war.

 Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern noch überdeutlich anzumerken ist. Einige Vorschläge – Freifahrtscheine für Menschen in Nationalfarben am 3. Oktober, Deutschlandfähnchen für Oberschülerinnen – klingen in Zeiten von Pegida gruselig und, für diejenigen, die sich noch an die DDR erinnern, auf groteske Weise vertraut.

All das wirft im Bezug auf das vorgeschlagene Zentrum eine weitere, über das inhaltliche hinausgehende, Frage auf: Was hieße es, wenn eine staatlicherseits in größerem Umfang bereitgestellte Förderung von Forschung und Austausch an die im Bericht skizzierte zentrale Institution und deren vorgegebenen Auftrag gebunden würde? Ein solches an eine staatlich vorgegebene Setzung geknüpftes Erinnerungsprojekt gibt es im Bezug auf die DDR-Geschichte bereits. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter Enquete-Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist. Thomas Klein hat kürzlich im telegraph beschrieben, wie kleinere, nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollen, sich in entweder in Antizipiation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck, den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten. Was in diesem Rahmen nicht erzählt werden konnte, fiel in den letzten drei Jahrzehnten folglich, statt einer differenzierten Aufarbeitung, einer ostalgischen Schattenerzählung eines „Es war doch nicht alles schlecht“ anheim.

Wenn der Staat nun also für eine Aufarbeitung der Transformationsgeschichte/n Geld in die Hand zu nehmen bereit ist – was er dringend sollte –, wäre es wichtig, dass er die Vergabe desselben nicht erneut über politische und begriffliche Vorgaben in bestimmte Richtungen zwängt und andere verschließt. Die Bewertung der deutschen Einheit und Transformation sollte hier nicht bereits, auf die im Bericht anklingende positive Weise Ausgangspunkt, sondern eher Inhalt und Ziel einer zu fördernden offenen und kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein. Um das zu erreichen, täte eine breite Debatte zur Ausrichtung bzw. eben gerade Offenheit der geplanten Einrichtung not. Der im Bericht formulierte Vorschlag, die Bundesregierung solle zur Ausgestaltung eines detaillierten Konzeptes, der Aufgaben und Ausrichtung des Zukunftszentrum “aus der Kommission heraus eine Arbeitsgruppe berufen”, klingt leider erst mal nicht danach. Parteilinie ick hör dir trapsen. Oder, wer das Geld verwaltet, setzt den Diskurs.

Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen

Das Gespräch zwischen Klaus Wolfram,  Jan Wenzel und Elske Rosenfeld
ist jetzt als HBF Edition #29 erschienen und kann HIER als pdf heruntergeladen werden. Das Heft basiert auf zwei Gesprächen, die ich 2010 und 2020 (mit Jan Wenzel) mit Wolfram geführt habe.  Im Gespräch geht es u.a. um Wolframs Arbeit in dem von ihm 1989 gegründeten BasisDruck Verlag, die Zeitung “die andere”, revolutionäre Öffentlichkeiten und die Möglichkeiten und das Scheitern der Revolution von 1989/90.
Zwei fast zeitgleich im telegraph erschienene Texte seien hier noch zur parallelen Lektüre empfohlen:

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Eine kurzfristig erscheinende Flugschrift von Wolfgang Rüddenklau zur Frühgeschichte des telegraph, Schwesterblatt der von Wolfram (und anderen) heraugegebenen “anderen zeitung”, mit einigen direkten Doppelungen mit Wolfram’s Erzählung.

und

Thomas Kleins ausführliche und detailreicher Abriss Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, der sich im Bezug auf das Scheitern und innere Zerwürfnis der Bürgerbewegungen und die Kritik der Aufarbeitungsszene gut mit den Geschichten von Klaus Wolfram quer lesen lässt.