POSTOST ist ein Zeitenmixer.
POSTOST lässt uns von 2020 in die ferne Zukunft des Jahres 2090 schauen und von 2020 zurück auf das Jahr 1990. Es lässt uns aber auch aus dem Jahr 1990 auf das Jahr 2020 blicken, auf die Welt zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Heftes.
In diesem Heft reagieren die Projektbeteiligten von POSTOST auf je ein Dokument zu Erfahrungen und Forderungen von Frauen[1] in der DDR und aus der Zeit des Umbruchs ab 1987. Ein Ausgangspunkt des Projektes und vieler Beiträge des Zines ist ein Stapel Forderungspapiere von Frauengruppen und Aktivistinnen, entstanden in den Monaten um die Zeitenwende 1989/90. Auch diese Papiere richten sich an eine unmittelbare Vergangenheit und eine sich rasch wandelnde Zukunft.
Frauengruppen hatten sich in der DDR erst wenige Jahre zuvor sowohl in kirchlich-oppositionellen als auch in akademischen und SED-kritischen Kreisen gebildet. Die Frauen für den Frieden z.B. gründeten sich 1982, um sich im Zuge der drohenden Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen gegen die zunehmende Militarisierung des Staates stark zu machen. Andere Gruppen beschäftigten sich, meist unter dem Dach der Kirche, mit feministischer Theologie und Theorie. Ab 1982 entwickelten erste Lesbengruppen, z.B. in der Berliner Gethsemane-Gemeinde, Praktiken der Selbstermächtigung, des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung.
1989 begann mit dem Aufbrechen der verkrusteten Strukturen und der Auflösung des Repressionsapparates der von den Bürgerbewegungen auf den Weg gebrachte Dialog zwischen Staat und Bevölkerung; Formen des Miteinander-Sprechens über alle Belange der sich neu formierenden Gesellschaft explodierten. Frauen begann sich zu organisieren, gründeten landesweit eine Vielzahl neuer Gruppen, die sich ab dem 3. Dezember 1989 im Unabhängigen Frauenverband (UFV) zusammenschlossen, um ihre Forderungen und Vorstellungen besser in den gesellschaftlichen Gestaltungsprozess einbringen zu können. Wenige Tage später, am 7.12.1989, erkämpften sie sich ihren Platz am Zentralen Runden Tisch der DDR, einem Forum der Vermittlung und Entscheidungsfindung zwischen Opposition und Regierung, wo sie u.a. an einem neuem Verfassungsentwurf mitwirkten.
Frauen und Frauengruppen spielten in den wichtigen Foren und Ereignissen der Umbruchszeit oft eine zentrale Rolle. So wurde z.B. die erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in Erfurt am 4. Dezember 1989 von einer Gruppe von Frauen um die Künstlerin Gabriele Stötzer in die Wege geleitet.
Das Manifest „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder: Manifest für eine autonome Frauenbewegung“ wurde von Ina Merkel (lila offensive) beim UFV-Gründungskongress veröffentlicht. Es behauptete eine Spezifik der Erfahrung von Frauen in einem Staat, in dem eine von oben herzustellende Geschlechtergleichheit offizieller emanzipatorischer Anspruch und Grundlage auf Gleichstellung zielender Sozialpolitiken war. Diese staatliche Behauptung von Gleichheit überdeckte in der DDR aber zugleich die Unzulänglichkeiten dieser Politiken in einem ungebrochen patriarchalen System – und machte diese Widersprüche unadressierbar.
Die Forderungen der Frauen richteten sich 1989/90 aber nicht nur gegen die Versäumnisse und den patriarchalen Duktus des sich auflösenden, vergangenen Staates. „Staat machen“ hieß hier vor allem, die Rolle und Stellung von Frauen in einer gemeinsam entworfenen kommenden Gesellschaft ebenfalls gänzlich neu zu denken.
Die erste DDR-weite Lesbentagung am 25.11. 1989 fiel – lange vorher geplant – eher zufällig ebenfalls in genau diese Aufbruchsmonate. Die Fragen auf dem Einladungsschreiben – Wer sind wir? Wie leben wir? Wovon träumen wir? – stellten sich plötzlich auf radikale Weise im Bezug auf alle Aspekte des eigenen und kollektiven (lesbischen) Lebens. In Arbeitsgruppen wurden Erfahrungen, z.B. als lesbische Mütter oder als Lesben mit Behinderung erstmals öffentlich besprochen[2].
Doch bevor sich all diese Fragen gemeinsam in der radikalen Offenheit des revolutionären Augenblicks besprechen ließen, rasten die Zeiten schon weiter, in eine Richtung, die von vielen der aktiven Frauen weder vorhergesehen noch gewollt war. Das Reformprojekt einer demokratischeren, gerechteren, demilitarisierten und feministischeren Gesellschaft geriet gegenüber dem nun auch von westdeutschen etablierten Kräften vorangetriebenen Projekt einer raschen deutschen Einheit – die das westliche Gefüge von Demokratie, Wirtschaft und Geschlechterrollen unangetastet lassen sollte – ins Hintertreffen. Gruppen wie SoFIA (Sozialistische Fraueninitiative AusländerInnen) warnten früh vor den Folgen des wachsenden Nationalismus und Rassismus. Ostdeutsche schwarze und Frauen of Colour engagierten sich in vielen dieser Initiativen und machten hier eigene Erfahrungen, leider auch der erneuten Ausgrenzung und Diskriminierung. In Dresden lud die im Neuen Forum aktive Ina Röder Sissoko Anfang 1991 schwarze Frauen und Mädchen erstmals zu einem Austausch zu diesen Fragen[3]. Organisierungen wie diese begannen in den frühen 1990ern auch andernorts unter dem Druck der zahlreichen Übergriffe bis hin zu Pogromen gegen – meist vermeintliche – Ausländer*innen[4]. Das Fenster der Möglichkeiten eine solidarische, ökologische, feministische, nicht- oder antinationalistische Gesellschaft neu zu denken hatte sich da bereits geschlossen.
Die Forderungspapiere der Frauen, die in den eiligen Wintermonaten 1990 entstanden waren und von der Archivarin und Protagonistin Samirah Kenawi gesammelt wurden, sind Kartierungen sich stetig wandelnder Zukünfte, deren Gestaltungsmöglichkeiten den Aktivist*innen bereits wieder entglitten.
Die am Zentralen Runden Tisch von Mitgliedern des UFV entwickelte Sozialcharta navigiert diesen Zeitraum. Sie liest sich als eine Reaktion auf die Erfahrungen von Frauen in der DDR und gleichzeitig – und vor allem – als Dokument ihrer Befürchtungen und Erwartungen in Bezug auf die kommende Einheit. Mit dem Papier, das als Grundlage der Aushandlung neuer sozialer Strukturen in einem neuen Gesamtdeutschland verstanden werden kann, wollten die Verfasser*innen einerseits jene Formen der Gleichstellung sichern, welche die DDR dem Westen voraushatte, und andererseits die befürchtete soziale, ökonomische, rechtliche Abwertung von Frauen im neuen System verhindern. Aus dieser Charta konnte im Einigungsprozess lediglich – und auch das nur unter dem Druck von ost- wie westdeutschen Frauen – das liberalere Abtreibungsrecht[5] der DDR in das vereinigte Deutschland gerettet werden. Darüber hinaus ist die Zukunft, welche die Frauen in den Papieren entwerfen, nicht eingetroffen. Ihre Ideen und ihre Namen sind heute kaum im öffentlichen Bewusstsein. Was könnte es heißen, diese Ideen heute als Forderungen und Visionen neu ins Spiel zu bringen? Welche Zukünfte laden uns heute, 2020, ein zu imaginieren? Wie ließen sich diese historischen und hochaktuellen Forderungen mit gegenwärtigen queerfeministischen, intersektionalen, ökologischen Feminismen aufmischen, updaten, neu mischen?
Elske Rosenfeld, September 2020
[1] Wir verwenden in diesem Text den im zeitlichen Kontext verwendeten, selbstgewählten und nicht trans-inklusiven, binären Begriff „Frauen“. Einige der damaligen Aktiven identifizieren sich heute nicht mehr als Frauen. Eine Sprache für trans- und nicht-binäre (Selbst)identifizierungen und die damit verbundenen Möglichkeiten stand auch in den oppositionellen Frauen- und Lesbengruppen damals kaum zur Verfügung.
[2] Organisierungen von Menschen mit Behinderung in der DDR sind bislang kaum historisch aufgearbeitet worden; bekannt ist aber z.B. die selbstorganisierte Landkommune um den 2020 verstorbenen Behindertenaktivisten Matthias Vernaldi in Hartroda/Thüringen.
[3] Siehe hierzu das Gespräch zwischen Ina Röder Sissoko und Suza Husse in „Longing is my favorite material for engaging holes“ in Suza Husse, Elske Rosenfeld (Hg.), wildes wiederholen. material von unten. Dissidente Geschichten in DDR und pOstdeutschland #1, 2019
[4] Das Ausstellungsprojekt und Buch Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost von Peggy Piesche (Hg.) und Nicola Lauré al-Samarai (Hauptautorin) ist den Erfahrungen und Organisierungen von BIPoC in der DDR und der Transformationszeit gewidmet.
[5] Laut DDR-Recht entschieden Schwangere während der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft allein, ob sie diese austragen oder abbrechen wollten.