Signale, Gesten, kollektive Körper.

Signale, Gesten, kollektive Körper. Der dissidentische Feminismus in Gabriele Stötzers künstlerischer Praxis war mein Beitrag zu Andreas Beitin, Uta Ruhkamp, Katharina Koch (Hg.): Empowerment Kunst und Feminismen, Berlin, 2022.

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Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Hess.

Der Kampf für die Emanzipation der Frau galt in der DDR im Vergleich zur Emanzipation der Arbeiterklasse als zweitrangig. Die Gleichberechtigung der Geschlechter war in der Verfassung der DDR von 1949 festgeschrieben; die Frage galt damit als in dem sozialistischen Staat abgehakt. Tatsächlich aber waren als Frauen sozialisierte Menschen in den höheren Etagen staatlicher Institutionen oder Unternehmen kaum präsent und sahen sich zudem mit der Doppelbelastung von Vollzeitbeschäftigung und häuslicher Reproduktionsarbeit konfrontiert. Diese Ungleichheiten und Widersprüche wurden jedoch, selbst in den dissidentischen Szenen der DDR, politisch kaum thematisiert. Wer dies doch tat oder sich gar als „feministisch“ bezeichnete, stieß auf Ablehnung.[1] Künstlerinnen, die in oppositionellen Kreisen aktiv waren, sahen sich weniger im Konflikt mit den Männern als mit dem Staat.[2] Sie suchten ihre eigene Ermächtigung eher darin, die männlich dominierten Ideale des Untergrunds[3] zu übernehmen, statt sich gegen diese aufzulehnen oder sie durch eigene zu ergänzen oder zu ersetzen. Nur wenige künstlerische Praktiken – wie die von Annemirl Baur oder Angela Hampel – bezogen sich ausdrücklich auf Geschlechterfragen oder das eigene „Frausein“.

Die kollaborativen Performances der Erfurter Künstlerin Gabriele Stötzer (geb. 1953 in Emleben, Thüringen) waren daher insofern sehr ungewöhnlich, als sie einerseits die Vorstellungen des sozialistischen Staates von Kollektivität, Geschlecht und Kunst hinterfragten, zugleich jedoch auch mit dem Selbstverständnis der dissidentischen Szenen beziehungsweise des künstlerischen Untergrunds brachen, dem Stötzer selbst angehörte. Während Letztere den vermeintlich autonomen Körper des (männlichen) Künstlers als einen raren Rückzugsort vor den Zurichtungen des sozialistischen Systems zelebrierten, entwickelte Stötzer in ihrer Kunst wiederum einen dissidenten, weiblichen, kollektiv konfigurierten Körper, der sich gerade dann aus den staatlichen Zwängen und Zuschreibungen zu lösen vermag, wenn er sich als maximal offen, dezentriert oder fragmentiert erlebt.

Der vorliegende Text spürt Stötzers spezifischem dissidenten Feminismus in diesen von ihrer Praxis ermöglichten Formen einer geteilten Verletzlichkeit nach.

 

Eine kollaborative Kunstpraxis entsteht aus der Erfahrung einer fundamentalen persönlichen Erschütterung

Gabriele Stötzer war in den späten 1970er Jahren, damals unter ihrem Ehenamen Kachold bekannt, zunächst in der dissidentischen Literaturszene ihrer Heimatstadt Erfurt aktiv. Ihre besonderen, kollaborativen und körperzentrierten performativen Praktiken begann sie aber erst nach dem Erleben einer radikalen Erschütterung ihrer Körper- und Selbstwahrnehmung zu entwickeln. Stötzer wurde 1977 verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe wegen „Staatsverleumdung“ verurteilt, nachdem sie den berühmten offenen Brief an die DDR-Führung gegen die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers Wolf Biermann mitunterzeichnet und verbreitet hatte. Sie verbrachte sieben Monate in der „Mörderburg“ Hoheneck, dem berüchtigten Frauengefängnis, dessen Insassinnen wegen Gewaltverbrechen oder politischer Straftaten verurteilt worden waren.[4] Die Begegnungen mit ihren weiblichen Mitgefangenen unter den körperlich wie psychisch extrem harten Haftbedingungen sollten ihre Wahrnehmung ihrer selbst, aber auch ihres Geschlechts und des sozialistischen Projekts in der DDR grundlegend erschüttern und verändern. Zu ihrem Gefängnisaufenthalt sagte Gabriele Stötzer später selbst: „Mein ganzes Bild von der Welt, von der DDR und von Frauen brach in einem Mal zusammen.“[5]

Die Körper ihrer Mitgefangenen, der Mörderinnen, Diebinnen und Prostituierten, widersetzten sich den beiden Konfigurationen des weiblichen Körpers, die in der DDR nicht so sehr miteinander konkurrierten, als sich vielmehr überschnitten: der traditionelle, (klein-)bürgerliche Körper des Mädchens „aus einem ordentlichen Haushalt“[6] und der sozialistische Körper der disziplinierten, produktiven Arbeiterin, der das ältere, bürgerliche Ideal eher überlagert als ersetzt hatte. Keine dieser Konfigurationen ließ sich für Stötzer mit den Verhaltensweisen der Frauen im Gefängnis in Einklang bringen: „Dass Frauen sich auch körperlich lieben, sich tätowieren, Löffel schlucken, um sich umzubringen – darauf hatten sie weder der real existierende Sozialismus noch ihre Eltern vorbereitet. Das Frauenbild der ordentlichen und fleißigen Mutter und Arbeiterin – von der eigenen Mutter vorgelebt und vom DDR-Regime als Prototyp der ,emanzipiertenʻ Frau propagiert – zerbricht.“[7] Es waren, in Stötzers eigenen Worten, „schicksale und eigenschaften, die ich frauen vorher nicht zuordnen konnte“.[8]

Mit der Zeit brachten Stötzers Einladungen immer mehr Frauen (und einige Männer) in einem „kollektivistischen Lebens- und Arbeitsentwurf“ [12] zusammen, der sich von ihrer Kunst nicht mehr trennen ließ. Eine solche Praxis forderte einerseits die vom Sozialistischen Realismus postulierte funktionalistische Verquickung von Kunst und Gesellschaft heraus – aber eben auch die diesem Postulat entgegengestellten Ausdrucksformen ihrer Kolleg*innen im künstlerischen Untergrund.

 

Eine doppelte Befreiung: gegen das Patriarchale im DDR-Staat und seinen Untergrundszenen

Viele Künstler*innen der Generation Stötzers versuchten, sich dem ideologischen Zugriff des Staats durch einen Rückzug in den hermetischen, homogenen Zirkel des Untergrunds und in eine explizit „unpolitische“ Kunst zu entziehen. Der Körper des – als männlich imaginierten – autonomen Künstlers galt nicht nur als Quelle der (individuellen) künstlerischen Autorschaft, sondern auch als Ort der Rebellion gegen beziehungsweise der Freiheit von den Zumutungen des Regimes. Als „frei“ galt der wilde, heroische, männliche Bohemien.[13]

Gabriele Stötzers Entscheidung, mit Frauen und über das Thema „Frausein“ zu arbeiten, war daher nicht nur eine Provokation für den ostdeutschen Staat, sondern überdies auch für die oppositionellen Kreise, in denen sie sich bewegte. 1984 gründete sie die einzige Künstlerinnengruppe der DDR, die unter dem Namen „Künstlerinnengruppe Erfurt“ (später Exterra XX) bekannt wurde. Im Laufe der Jahre nahmen Monika Andres, Tely Büchner, Elke Carl, Monique Förster, Gabriele Göbel, Ina Heyner, Verena Kyselka, Bettina Neumann, Ingrid Plöttner und Harriet Wollert sowie Ines Lesch, Karina Popp, Birgit Quehl, Jutta Rauchfuß und Marlies Schmidt – und gelegentlich weitere Personen – an den Aktivitäten der Gruppe teil.[14] Statt das eigene oppositionelle Selbstbild an einer möglichst radikalen Unterscheidung zwischen Untergrund und Staat festzumachen, beschäftigte sich die Gruppe in ihren Experimenten mit patriarchalischen Formen der Unterdrückung, die beiden Kontexten gemeinsam waren. Im Schutz von Formen der Soziabilität und Kooperation, die in der Gruppe geschaffen und gepflegt wurden, erforschten die Frauen sowohl ihre eigenen Körper wie auch die der anderen, jenseits von und entgegen den propagierten Geschlechter- und gesellschaftlichen Normen.

 

Eine neue Realität: Stötzers feministische Kunst und ihre aktivistische Praxis werden eins

Der Film „signale“ war ein Projekt, das Stötzers Gruppe im Frühjahr 1989 begann und das sich als vorausahnend, ja sogar als „prophetisch“ erweisen sollte. „signale war etwas für mich verborgenes, es rief mich das andere, unausgesprochene.“[16]

Wenige Monate später sollte die „neue realität“, die ihre Arbeit erfühlt hatte, überall explosionsartig zur wunderbaren Wirklichkeit werden. Als im Herbst 1989 die Revolution begann, öffneten sich die Experimente der Frauen mühelos einer rasanten und allumfassenden Politisierung – einem kollektiven Neudenken – aller Lebensbereiche. Die implizite (oder Mikro-)Politik ihrer feministischen, künstlerischen Kooperationen und das konkrete (makro-)politische Handeln wurden ununterscheidbar eins. Die Gruppe Frauen für Veränderung gründete sich im Oktober 1989 aus Stötzers Gruppe und anderen engagierten Thüringer Frauengruppen in Erfurt und baute auf deren materiellen und immateriellen Grundlagen auf: Netzwerken, Ressourcen, Fähigkeiten, dem Einander-Kennen und Vertrauen.[17] Die Gruppe beteiligte sich maßgeblich an den allwöchentlichen Erfurter Demonstrationen und organisierte im Rathaus der Stadt erstmalig Versammlungen nur für Frauen.

Am 8. November 1989 ergriff Stötzer vor 300 Frauen das Wort:

„gegen die führungsrolle des mannes
gegen die führer
gegen die rollen
gegen die bilder
gegen die frauenbilder der letzten 40 jahre“[18]

Im Moment der Revolution wurden die Dekonstruktion der ideologischen und politischen Struktur des DDR-Sozialismus, seiner Rollen und politischen Hierarchien und die Dekonstruktion seiner patriarchal geprägten Geschlechterrollen als gegenseitig bedingt erkennbar und somit als solche verhandelbar. Die ästhetisch vermittelten Formen des kollektiven „Selbst-“ und „Frau“-Seins, die Stötzers künstlerische Kollaborationen jahrelang herausgearbeitet hatten, konnten nun endlich benannt und auch außerhalb ihrer Kunst gelebt werden. Am 8. November 1989 entfalteten die körperlichen Signale in Stötzers Kunst – wenigstens für einen kurzen Moment – ihre kommunikative Wirkung auch jenseits der kleinen Zirkel ihrer künstlerischen Aktivitäten. Die besondere Konstellation von Politik, Kunst und Geschlecht, die Stötzers Praxis aus den Widersprüchen und der zunehmenden Durchlässigkeit ihres staatssozialistischen Verständnisses formuliert hatte, begann nun sichtbar zu werden und betrat den Bereich des Möglichen.

 

Nach 1990: Stötzers politisch-ästhetische Arbeitsweise wird in den Vokabularen des Westens unlesbar

Die politische Neuorientierung der Revolution in Richtung der deutschen Wiedervereinigung bereitete diesen Experimenten und Träumen ein rasches Ende. Nach dem 3. Oktober 1990 gingen der ostdeutsche Staat und seine spezifischen Kulturen ebenso in einer vergrößerten BRD auf wie die dissidenten Formen von Weiblichkeit, die Stötzer und ihre Gruppe herausgearbeitet hatten. Stötzers dissidenter Feminismus und ihre politisch-ästhetischen Erforschungen neuer Formen von Kollektivität wurden – in den nun dominierenden Vokabularen des Westens –abermals unlesbar.

Auch die in den politischen Kämpfen des Westens geformten feministischen Sprechweisen waren wenig geeignet, die Geschlechterverhältnisse in der einstigen DDR zu fassen: Die spezifischen Arten, das eigene (weibliche) Geschlecht zu leben und zu erleben, welche die nur vordergründig progressive Sozial- und Geschlechterpolitik des Staatssozialismus ermöglicht und verunmöglicht hatten, waren in deren Vokabularen eben so wenig beschreibbar, wie die dissidenten Gegenvorschläge von Stötzers Gruppe.

Gleiches passierte im Feld der Kunst, wo ein westlicher Kunstbegriff nicht nur ostdeutsche künstlerische Praktiken aus dem Blick geraten ließ, sondern auch – was vielleicht noch gravierender ist – die materiellen und diskursiven Kontexte, in denen deren Ästhetik und Politik überhaupt nur lesbar waren. Kunsthistorische Untersuchungen zum künstlerischen Untergrund der DDR blieben denn auch oft in dem aus dem Kalten Krieg übernommenen Gegensatz von Kommunismus und Antikommunismus verhaftet und reproduzierten so eben jene geschlechtlich kodierten (männlich konnotierten) Vorstellungen eines befreiten, autonomen Künstlergenies, die Gabriele Stötzers künstlerische Praxis durchkreuzt hatte. Auch das führte dazu, dass ihre Kunst viele Jahre nur wenig Beachtung fand.

Seit einigen Jahren zieht die Öffnung des Diskurses zu DDR und „Nachwende“ nun auch ein wachsendes Interesse am Werk von Gabriele Stötzer und ihrer Gruppe nach sich. Das Wissen um die Möglichkeiten, die eigene Geschlechtlichkeit anders zu leben, das in den filmischen und fotografischen Dokumenten von Stötzers künstlerischer Praxis aufbewahrt ist, wartet auf eine Entschlüsselung. Die großartige Aufgabe, den Schatz dieses feministischen Erbes zu heben, steht nun an.

 

Anmerkungen

[1] Siehe Angelika Richter, Das Gesetz der Szene: Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, Bielefeld 2019, S. 136.

[2] Siehe ebd., S. 144.

[3] Für die Beschreibung von Personen und Gruppen in der DDR (inklusive ihrer Kunstszenen), die sich selbst als kritisch gegenüber dem Staat und seinen Institutionen verstanden oder staatlicherseits als Kritiker*innen oder Gegner*innen wahrgenommen wurden, werden diverse Begriffe verwendet: oppositionell, dissidentisch, nonkonform, Untergrund u. v. a. Sie bilden jedoch immer nur Teilaspekte des Selbstverständnisses von Akteur*innen ab, bleiben also immer ein Stück weit unzulänglich. Ich verwende hier auch den Begriff „dissident“, der dem Englischen entlehnt ist, und der das Konzept der Dissidenz in Richtung eines erweiterten Politikbegriffs öffnet.

[4] Siehe Claus Löser, Strategien der Verweigerung: Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR, Berlin 2011, S. 290.

[5] Gabriele Stötzer: Anklagepunkte, n.d., Zeitzeugenportal, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=UwGwd6dS-uE (Zugriff: 09.11.2021).

[6] Rebecca Hillauer, Zeit hinter Mauern, in: der Freitag vom 18. Oktober 2002, o. S. Online verfügbar unter: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/zeit-hinter-mauern (Zugriff: 09.11.2021).

[7] Hillauer ebd.

[8] Zit. in: Karin Fritzsche/Claus Löser (Hrsg.), Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976 – 1989. Texte, Bilder, Daten, Berlin 1996, S. 75.

[9] Stötzer im Gespräch mit der Autorin.

[10] Siehe C. Löser (Anm. 4), S. 294.

[11] Zit. in: K. Fritzsche /C. Löser (Anm. 8), S. 76.

[12] Ebd., S. 296.

[13] Siehe A. Richter (Anm. 1), S. 108.

[14] Siehe ebd., S. 131.

[15] Zit. in: K. Fritzsche/C. Löser (Anm. 8), S. 76.

[16] Gabriele Stötzer in einer E-Mail an die Verfasserin, Mai 2013.

[17] So initiierten Stötzer und vier Frauen aus ihrem Umkreis die landesweit erste erfolgreiche Besetzung eines lokalen Stasi-Hauptquartiers, auf die bald weitere an anderen Orten folgten. Siehe Peter Große/Barbara und Matthias Sengewald, Die Besetzung der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR am 4. Dezember 1989 in Erfurt , hrsg. v. der Gesellschaft für Zeitgeschichte, Erfurt, n. d.. Online verfügbar unter: www.gesellschaft-zeitgeschichte.de (Zugriff: 09.11.2021).

[18] Aus dem Dokument „geredet im rathaussitzungssaal vor frauen eingeladen von der bürgerinneninitiative frauen für veränderung am 8.11.89 gegen 22 uhr“, Gabriele Stötzer, Privatarchiv.