kuratieren ist sorge

kuratieren ist sorge – formen der sorge in praktiken des kritischen kuratierens
war mein Textbeitrag (hier in deutscher Übersetzung) zu Anna Schäffler, Friederike Schäfer, Nanne Buurman, AG Networks of Care, nGbK, (Eds.): Networks of Care. Politiken des (Er)haltens und (Ent)sorgens, Berlin, 2022

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curate (v.) von lateinisch curatus, Partizip Perfekt von curare „sich sorgen“; siehe auch: cure (v.); spätes 14. Jh., „gesund machen oder ein gesunder Zustand“, von altfranzösisch curer und direkt von lateinisch curare „sich sorgen“, daher in der medizinischen Sprache „medizinisch behandeln, heilen“. Auch: für ein Museum, eine Galerie, eine Kunstausstellung etc. „verantwortlich sein, verwalten“. Ein früheres Verb, curatize (1801), bezieht sich auf das Substantiv „(Kirchen-)Kurator“; spätes 14. Jh., „geistlicher Führer, Kleriker, der für das geistige Wohlergehen der ihm Anvertrauten verantwortlich ist; Gemeindepfarrer“, von mittelalterlich lateinisch curatus „jemand, der für die Sorge (der Seelen) verantwortlich ist.[1]

 

wenn kuratieren sorge ist, dann sorge durch wen, für wen, wofür?

wenn kuratieren sorge ist, dann wie?

 

wer sorgt sich und um wen?

die institution um die kurator_innen?

die kurator_innen um die künstler_innen?

die künstler_innen um die institution?

alles dreis aber umgekehrt?

 

wer sorgt für die zeit, die es braucht, damit kreative arbeit stattfinden kann?

wer sorgt für die integrität der werke?

 

wer sorgt sich um das publikum?

ist sorge zustimmung oder kann es auch heißen mehr zu fordern?

bedeutet sorge fürs publikum überfluss herzustellen?

oder ist weniger zu zeigen auch eine art sorge?

was ist die arbeit der betrachter_innen?

 

wenn sich die sorge um das publikum und die sorge um die kurator_innen, die sorge um die künstler_innen und die sorge um die institution nicht nahtlos ineinander fügen – sollte dann eine form der sorge vorrang vor der anderen haben? wessen sorge ist privilegiert, wenn sorge eine begrenzte ressource ist?

wer entscheidet darüber?

 

was ist die arbeit des kuratierens? ist denken arbeit, ist lesen arbeit, ist es arbeit, umherlaufen und zuzuhören wie ein gedanke im kopf gestalt annimmt? wie misst sich der wert dieser arbeit?

 

an der anzahl der formate,

der kunstwerke,

der besucher_innen,

der twitter-erwähnungen,

der rezensionen?

oder an der qualität der beziehungen, die der prozess des kuratierens ermöglicht?

wie misst man diese?

 

wer misst?

die produzent_innen? das publikum? die institution? die geldgeber_innen?

 

ist eine kuratorische arbeit erfolgreich, wenn sie ihre macher_innen erschöpft zurücklässt?

 

kann kritik sorgend sein?

kann sorge in der suche nach perfektion liegen?

 

wie kann sorgearbeit sichtbar werden?

welche sorgearbeit und wessen?

 

die arbeit, toiletten zu putzen, oder nächtelang zu diskutieren, bis ein bestimmtes problem gelöst ist? die arbeit, die es braucht, um tief durchzuatmen, wenn man aus der haut fahren will, oder die arbeit, die es braucht, um wieder zu atem zu kommen, wenn dies jemand anderem passiert ist?

 

für welche dieser arten von arbeit werden wir bezahlt?

wie werden wir bezahlt?

ist bezahlung eine form der sorge?

 

wie kalkuliert man eine gerechte bezahlung?

auf der grundlage der bedürfnisse,

fähigkeiten,

qualifikationen,

dem jeweiligen wert, den der so genannte freie markt den verschiedenen arten von arbeit zuweist?

sollte die arbeit des kuratierens gleich bezahlt werden wie die der künstler_innen, der flyer-designer_innen, der person am kassenschalter? ist es sorge, alle unterschiedlich oder alle genau gleich zu bezahlen?

sollte jemand besser bezahlt werden, dessen arbeit unglaublich langweilig ist?

sollten wir für die zeit bezahlt werden, die es braucht, um unsere eigenen körper zu regenerieren?

wer zahlt für die babysitter_in?

sollten wir darauf beharren, dass alle arbeitsstunden, die für die gestaltung einer ausstellung nötig sind, auch bezahlt werden? oder darauf, nur genau die stunden in diese arbeit zu stecken, für die wir tatsächlich bezahlt werden? schaffen wir es, eine wand leer zu lassen?

was ist mit bezahlung

in form von anerkennung?

in form von kulturellem kapital?

in form von freundschaft?

in form von unterstützung?

mit dem versprechen auf all diese dinge irgendwann einmal, später?

mit dem spass an der arbeit?

ist das genug?

wie werden wir großzügiger mit uns selbst und einander?

ist das einverständnis, kostenlos oder für wenig geld zu arbeiten, ein akt der sorge? ist es ein privileg? kann es eine pflicht sein?

ist eine arbeit noch kritisch, wenn sie bezahlt wird? ist eine arbeit noch kritisch, wenn sie gut bezahlt wird?

wenn ich euch sage, dass ich für das schreiben dieses textes 150 euro brutto bekommen und 8 stunden daran gesessen habe, erscheint euch das angemessen, zu viel oder zu wenig?

hätte mein text für diese bezahlung länger, kürzer, umfangreicher oder weniger umfangreich sein sollen? würde es einen unterschied machen, wenn ich sage, dass die arbeit an diesem text ein kampf war, aber auch ein vergnügen?

sollte das eine rolle spielen?

wie begegnen wir den widersprüchen in den ökonomischen politiken unserer praxis?

wie können wir unsere arbeit und unsere begegnungen als eine praxis der sorge um uns selbst und andere gestalten? (und wenn die sorge um einen selbst auf kosten von anderen geht – ist das noch sorge? und vice versa?)

wissen wir bereits oder müssen wir noch besser lernen, wie eine sorgende arbeit und ein sorgender arbeitskontext aussehen könnten?

können wir es gemeinsam lernen?

 

Elske Rosenfeld, geboren 1974 in Halle/S. (DDR), arbeitet in verschiedenen Medien und Formaten. Ihr hauptsächlicher Schwerpunkt und Material sind die Geschichte des Staatssozialismus, seiner Dissidenzen und der Revolution von 1989/90. Die Fragestellungen dieses Texts basieren auf Erfahrungen aus der Arbeit als Künstlerin und Ausstellungsmacherin in der politischen Kunstszene Berlins, wie zum Beispiel zuletzt als Mitglied der nGbK Arbeitsgruppe „oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende“. Der Text baut auf der Text-Bild-Collage„Symposium“ auf, die 2014 mit Freja Bäckman entstanden ist.

[1] https://www.etymonline.com/word/curate und https://www.etymonline.com/word/cure?ref=etymonline_crossreference#etymonline_v_42912

curating is care

curating is care—on the conditions of care in practices of critical curating

was my contribution to Anna Schäffler, Friederike Schäfer, Nanne Buurman, AG Networks of Care, nGbK, (Eds.): Networks of Care. Politiken des (Er)haltens und (Ent)sorgens, Berlin, 2022

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curate (v.)

from Latin curatus, past participle of curare “to take care of”; see also: cure (v.); late 14c., “to restore to health or a sound state,” from Old French curer and directly from Latin curare “take care of,” hence, in medical language, “treat medically, cure”). Also: to “be in charge of, manage” a museum, gallery, art exhibit, etc. An earlier verb, curatize (1801) refers to the noun “(church) curate;” late 14c., “spiritual guide, ecclesiastic responsible for the spiritual welfare of those in his charge; parish priest,” from Medieval Latin curatus “one responsible for the care (of souls).1

if curating is care then care by whom, for whom, of what? if curating is care then how?

who takes care and of whom? the institution of the curators? the curators of the artists?
the artists of the institution?
all of the above but vice versa?

who takes care of protecting the time-space in which creation can happen? who takes care of the integrity of the works?

who takes care of the audience?
is to care to comfort or is to care also to challenge? does care show up as abundance?
or is showing less care?
what is the work of the viewer?

if care of the audience and care of the curators, care of the artists and care of the institution do not collapse neatly into each other—should one form of care take precedence over the other? whose care is privileged if care is a limited resource?
who decides?

what is the work of curating? is thinking work, is reading work, is going around listening to your thoughts settle work? how can its value be measured?

in the quantity of formats, of art works,
of visitors,
of twitter mentions,
of reviews?
or by the quality of the relationships a process of curating enabled? how to measure those?

who measures?
the producers? the audience? the institution? the funders?

is a work of curating successful if it leaves its makers depleted?

can criticism be caring?
and is it caring to aim for perfection?

can the work of taking care be made visible? which work and whose?

the work of cleaning the toilets or that of talking through the night until a particular problem has found its solution? the work it takes to take a deep breath when you want to fly off the handle, or the work it takes to get your breath back when another has done so?

which of these kinds of work are we paid for? how are we paid?
is pay care?

how is a fair rate of pay calculated? based on needs,
abilities,
qualifications,

the respective value assigned to different types of work by the so-called “free market”?

should the work of curating be paid the same as that of the artist, the flyer designer, the person at the ticket counter? is it care to pay everyone differently or to pay them exactly the same?
should someone be paid more if their work is incredibly boring?
should we be paid for the time it takes to replenish our own bodies?
who pays for the babysitter?

should we fight to increase the pay to fit the amount of work invested in an exhibition’s creation? or limit the amount of work we invest to the amount of pay available for it? do we have the courage to leave one wall empty?

what about payment in recognition?
in cultural capital?
in friendship? support?

with the promise of any of the above at some point in the future? with the joy of creation?

is it enough?
how can we be generous with ourselves and each other?

is agreeing to work for free or for little an act of care? is it a privilege? is it a duty? is a work still critical if it is paid for? is a work still critical if it is well paid for?

if i told you i was paid 150 euro before taxes for writing this text, and that it took me 8 hours, would you consider this adequate, too much, too little?
for this amount of pay should my text have been longer, shorter, more comprehensive or less so? would it make a difference if i said that to work on it has been a struggle, but also a pleasure?

should it matter?
how do we sit with the contradictions of the economies and the politics or our practice?

how can we conduct our work and our encounters as a practice of taking care of ourselves and each other? (and if my self-care comes at the expense of that of another—is it still caring? and vice versa?)

do we already know, or do we still have to learn what a work and a work context that cares looks like?

how do we learn together?

 

Elske Rosenfeld, born 1974 in Halle/S. (GDR), works in different media and formats. Her primary focus and material are the histories of state socialism, its dissidences, and the revolution of 1989/90. The questions of this text are based on experiences of working as an artist and exhibition maker in the political art scenes of Berlin, such as her most recent work as a member of the project “…oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende” at the nGbK/ such as most recently as a member of the nGbK working group “oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende”. The text also builds on the text- image-collage work “Symposium”, created in 2014 with Freja Bäckman.

 

1 https://www.etymonline.com/word/curate and https://www.etymonline.com/word/cure?ref=etymolI- ne_crossreference#etymonline_v_42912

Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen

Das Gespräch zwischen Klaus Wolfram,  Jan Wenzel und Elske Rosenfeld
ist jetzt als HBF Edition #29 erschienen und kann HIER als pdf heruntergeladen werden. Das Heft basiert auf zwei Gesprächen, die ich 2010 und 2020 (mit Jan Wenzel) mit Wolfram geführt habe.  Im Gespräch geht es u.a. um Wolframs Arbeit in dem von ihm 1989 gegründeten BasisDruck Verlag, die Zeitung “die andere”, revolutionäre Öffentlichkeiten und die Möglichkeiten und das Scheitern der Revolution von 1989/90.
Zwei fast zeitgleich im telegraph erschienene Texte seien hier noch zur parallelen Lektüre empfohlen:

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Eine kurzfristig erscheinende Flugschrift von Wolfgang Rüddenklau zur Frühgeschichte des telegraph, Schwesterblatt der von Wolfram (und anderen) heraugegebenen “anderen zeitung”, mit einigen direkten Doppelungen mit Wolfram’s Erzählung.

und

Thomas Kleins ausführliche und detailreicher Abriss Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, der sich im Bezug auf das Scheitern und innere Zerwürfnis der Bürgerbewegungen und die Kritik der Aufarbeitungsszene gut mit den Geschichten von Klaus Wolfram quer lesen lässt.

 

Postost Zine

Am 24.9.2020 hatte das Tanzprojekt PostOst  in den Berliner Sopiensälen Premiere. Ich habe für das Projekt, gemeinsam mit allen Mitwirkenden Anna Hentschel, Zwoisy Mears-Clarke, Pham Minh Duc, Rike Flämig, Claudia Graue, Yvonne Sembene, Emese Csornai, Martyna Poznańska, Josefine Mühle, Maria Rößler und Elena Polzer ein das Stück begleitendes Zine zusammengestellt, das von Kerem Jehuda Halbrecht gestaltet wurde. Dank an Noa Winter und Melmun Barjachuu für ihre diskriminierungsensible Beratung. Das komplette Zine steht HIER zum Download zur Verfügung. Meine Einführung, eine kurze Intro zu Erfahrungen und Forderungen von Frauen in der Revolution von 1989/90 folgt hier:

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POSTOST ist ein Zeitenmixer.

POSTOST lässt uns von 2020 in die ferne Zukunft des Jahres 2090 schauen und von 2020 zurück auf das Jahr 1990. Es lässt uns aber auch aus dem Jahr 1990 auf das Jahr 2020 blicken, auf die Welt zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Heftes.

In diesem Heft reagieren die Projektbeteiligten von POSTOST auf je ein Dokument zu Erfahrungen und Forderungen von Frauen[1] in der DDR und aus der Zeit des Umbruchs ab 1987. Ein Ausgangspunkt des Projektes und vieler Beiträge des Zines ist ein Stapel Forderungspapiere von Frauengruppen und Aktivistinnen, entstanden in den Monaten um die Zeitenwende 1989/90. Auch diese Papiere richten sich an eine unmittelbare Vergangenheit und eine sich rasch wandelnde Zukunft.

Frauengruppen hatten sich in der DDR erst wenige Jahre zuvor sowohl in kirchlich-oppositionellen als auch in akademischen und SED-kritischen Kreisen gebildet. Die Frauen für den Frieden z.B. gründeten sich 1982, um sich im Zuge der drohenden Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen gegen die zunehmende Militarisierung des Staates stark zu machen. Andere Gruppen beschäftigten sich, meist unter dem Dach der Kirche, mit feministischer Theologie und Theorie. Ab 1982 entwickelten erste Lesbengruppen, z.B. in der Berliner Gethsemane-Gemeinde, Praktiken der Selbstermächtigung, des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung.

1989 begann mit dem Aufbrechen der verkrusteten Strukturen und der Auflösung des Repressionsapparates der von den Bürgerbewegungen auf den Weg gebrachte Dialog zwischen Staat und Bevölkerung; Formen des Miteinander-Sprechens über alle Belange der sich neu formierenden Gesellschaft explodierten. Frauen begann sich zu organisieren, gründeten landesweit eine Vielzahl neuer Gruppen, die sich ab dem 3. Dezember 1989 im Unabhängigen Frauenverband (UFV) zusammenschlossen, um ihre Forderungen und Vorstellungen besser in den gesellschaftlichen Gestaltungsprozess einbringen zu können. Wenige Tage später, am 7.12.1989, erkämpften sie sich ihren Platz am Zentralen Runden Tisch der DDR, einem Forum der Vermittlung und Entscheidungsfindung zwischen Opposition und Regierung, wo sie u.a. an einem neuem Verfassungsentwurf mitwirkten.

Frauen und Frauengruppen spielten in den wichtigen Foren und Ereignissen der Umbruchszeit oft eine zentrale Rolle. So wurde z.B. die erste Besetzung einer Stasi-Zentrale in Erfurt am 4. Dezember 1989 von einer Gruppe von Frauen um die Künstlerin Gabriele Stötzer in die Wege geleitet.

Das Manifest „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder: Manifest für eine autonome Frauenbewegung“ wurde von Ina Merkel (lila offensive) beim UFV-Gründungskongress veröffentlicht. Es behauptete eine Spezifik der Erfahrung von Frauen in einem Staat, in dem eine von oben herzustellende Geschlechtergleichheit offizieller emanzipatorischer Anspruch und Grundlage auf Gleichstellung zielender Sozialpolitiken war. Diese staatliche Behauptung von Gleichheit überdeckte in der DDR aber zugleich die Unzulänglichkeiten dieser Politiken in einem ungebrochen patriarchalen System – und machte diese Widersprüche unadressierbar.

Die Forderungen der Frauen richteten sich 1989/90 aber nicht nur gegen die Versäumnisse und den patriarchalen Duktus des sich auflösenden, vergangenen Staates. „Staat machen“ hieß hier vor allem, die Rolle und Stellung von Frauen in einer gemeinsam entworfenen kommenden Gesellschaft ebenfalls gänzlich neu zu denken.

Die erste DDR-weite Lesbentagung am 25.11. 1989 fiel – lange vorher geplant – eher zufällig ebenfalls in genau diese Aufbruchsmonate. Die Fragen auf dem Einladungsschreiben – Wer sind wir? Wie leben wir? Wovon träumen wir? – stellten sich plötzlich auf radikale Weise im Bezug auf alle Aspekte des eigenen und kollektiven (lesbischen) Lebens. In Arbeitsgruppen wurden Erfahrungen, z.B. als lesbische Mütter oder als Lesben mit Behinderung erstmals öffentlich besprochen[2].

Doch bevor sich all diese Fragen gemeinsam in der radikalen Offenheit des revolutionären Augenblicks besprechen ließen, rasten die Zeiten schon weiter, in eine Richtung, die von vielen der aktiven Frauen weder vorhergesehen noch gewollt war. Das Reformprojekt einer demokratischeren, gerechteren, demilitarisierten und feministischeren Gesellschaft geriet gegenüber dem nun auch von westdeutschen etablierten Kräften vorangetriebenen Projekt einer raschen deutschen Einheit – die das westliche Gefüge von Demokratie, Wirtschaft und Geschlechterrollen unangetastet lassen sollte – ins Hintertreffen. Gruppen wie SoFIA (Sozialistische Fraueninitiative AusländerInnen) warnten früh vor den Folgen des wachsenden Nationalismus und Rassismus. Ostdeutsche schwarze und Frauen of Colour engagierten sich in vielen dieser Initiativen und machten hier eigene Erfahrungen, leider auch der erneuten Ausgrenzung und Diskriminierung. In Dresden lud die im Neuen Forum aktive Ina Röder Sissoko Anfang 1991 schwarze Frauen und Mädchen erstmals zu einem Austausch zu diesen Fragen[3]. Organisierungen wie diese begannen in den frühen 1990ern auch andernorts unter dem Druck der zahlreichen Übergriffe bis hin zu Pogromen gegen – meist vermeintliche – Ausländer*innen[4]. Das Fenster der Möglichkeiten eine solidarische, ökologische, feministische, nicht- oder antinationalistische Gesellschaft neu zu denken hatte sich da bereits geschlossen.

Die Forderungspapiere der Frauen, die in den eiligen Wintermonaten 1990 entstanden waren und von der Archivarin und Protagonistin Samirah Kenawi gesammelt wurden, sind Kartierungen sich stetig wandelnder Zukünfte, deren Gestaltungsmöglichkeiten den Aktivist*innen bereits wieder entglitten.

Die am Zentralen Runden Tisch von Mitgliedern des UFV entwickelte Sozialcharta navigiert diesen Zeitraum. Sie liest sich als eine Reaktion auf die Erfahrungen von Frauen in der DDR und gleichzeitig – und vor allem – als Dokument ihrer Befürchtungen und Erwartungen in Bezug auf die kommende Einheit. Mit dem Papier, das als Grundlage der Aushandlung neuer sozialer Strukturen in einem neuen Gesamtdeutschland verstanden werden kann, wollten die Verfasser*innen einerseits jene Formen der Gleichstellung sichern, welche die DDR dem Westen voraushatte, und andererseits die befürchtete soziale, ökonomische, rechtliche Abwertung von Frauen im neuen System verhindern. Aus dieser Charta konnte im Einigungsprozess lediglich – und auch das nur unter dem Druck von ost- wie westdeutschen Frauen – das liberalere Abtreibungsrecht[5] der DDR in das vereinigte Deutschland gerettet werden. Darüber hinaus ist die Zukunft, welche die Frauen in den Papieren entwerfen, nicht eingetroffen. Ihre Ideen und ihre Namen sind heute kaum im öffentlichen Bewusstsein. Was könnte es heißen, diese Ideen heute als Forderungen und Visionen neu ins Spiel zu bringen? Welche Zukünfte laden uns heute, 2020, ein zu imaginieren? Wie ließen sich diese historischen und hochaktuellen Forderungen mit gegenwärtigen queerfeministischen, intersektionalen, ökologischen Feminismen aufmischen, updaten, neu mischen?

Elske Rosenfeld, September 2020

[1] Wir verwenden in diesem Text den im zeitlichen Kontext verwendeten, selbstgewählten und nicht trans-inklusiven, binären Begriff „Frauen“. Einige der damaligen Aktiven identifizieren sich heute nicht mehr als Frauen. Eine Sprache für trans- und nicht-binäre (Selbst)identifizierungen und die damit verbundenen Möglichkeiten stand auch in den oppositionellen Frauen- und Lesbengruppen damals kaum zur Verfügung.

[2] Organisierungen von Menschen mit Behinderung in der DDR sind bislang kaum historisch aufgearbeitet worden; bekannt ist aber z.B. die selbstorganisierte Landkommune um den 2020 verstorbenen Behindertenaktivisten Matthias Vernaldi in Hartroda/Thüringen.

[3] Siehe hierzu das Gespräch zwischen Ina Röder Sissoko und Suza Husse in „Longing is my favorite material for engaging holes“ in Suza Husse, Elske Rosenfeld (Hg.), wildes wiederholen. material von unten. Dissidente Geschichten in DDR und pOstdeutschland #1, 2019

[4] Das Ausstellungsprojekt und Buch Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost von Peggy Piesche (Hg.) und Nicola Lauré al-Samarai (Hauptautorin) ist den Erfahrungen und Organisierungen von BIPoC in der DDR und der Transformationszeit gewidmet.

[5] Laut DDR-Recht entschieden Schwangere während der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft allein, ob sie diese austragen oder abbrechen wollten.

wildes wiederholen. material von unten.

Unser Buch wildes widerholen. material von unten. Dissidente Geschichten aus DDR und pOstdeutschland ist da und kann bei District Berlin bestellt werden. Aufgrund von Covid 19 kann sich die Lieferung etwas verzögern. Ihr könnt das Buch jetzt über press@district-berlin.com vorbestellen und erhaltet das pdf vorab. Die gedruckte Fassung liefern wir sobald wie möglich nach.

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Die Erfahrungen des gemeinsamen widerständigen Lebens in der von jeder utopischen Zukunft gelösten Gegenwärtigkeit der späten DDR harren noch immer einer differenzierten Bearbeitung. Ihre Spuren sind in der Erinnerung der damals Involvierten und in zahlreichen Dokumenten und Materialien in Archiven und Sammlungen aufgehoben. Dieses Buch ist das Ergebnis eines vielstimmigen und transdisziplinären Arbeitsprozesses von Künstler*innen, Autor*innen, Forscher*innen, Kurator*innen, Archivar*innen, Aktivist*innen und weiteren Gesprächspartner*innen im Archiv der DDR-Opposition. Die dort gesammelten Materialien zeichnen ein komplexes Bild individueller und kollektiver Lebenswelten und dokumentieren (Gegen)Entwürfe ökologischer, feministischer und radikal demokratischer Bewegungen von Unten, die sich entlang des Versprechens wie des Scheiterns des Staatssozialismus ausformten.
wildes wiederholen. material von unten geht der Aktualität dieser wenig gehörten Geschichten nach, um sie mit Begriffen und Praktiken des Politischen heute in Dialog zu setzen. Das Buch versammelt künstlerische und politische Zugänge zu Archiv und Erinnerung aus kritisch-postsozialistischen, queer*feministischen, linken, Schwarzen, postmigrantischen und intersektionalen Perspektiven. Die Positionen, aus denen heraus Geschichte erlebt, begehrt und erzählt wird – ihre Situiertheit in Körpern, Sprachen und Ökologien – sind Teil jeder Erzählung.

 

Beiträge: Alex Gerbaulet + Mareike Bernien, Anna Zett, Elsa Westreicher, Elske Rosenfeld, Ernest Ah + Sabrina Saase + Lee Stevens vom Kollektiv der Raumerweiterungshalle, Ina Röder Sissoko + Suza Husse, Irena Kukutz, Nadia Tsulukidze, Peggy Piesche, Samirah Kenawi, Technosekte + Henrike Naumann und Katalin Cseh-Varga, Maria Josephina Bengan Making, Rebecca Hernandez García, Redi Koobak, Sebastian Pflugbeil, Tim Eisenlohr

Herausgeber*innen: Elske Rosenfeld und Suza Husse

Gestaltung: Elsa Westreicher

Verlag: Archive Books

Eine Archive Books und District*Schule ohne Zentrum Publikation in Kooperation mit der Robert Havemann Gesellschaft e.V. / Archiv der DDR-Opposition. Gesprächspartner*innen im Archiv der DDR-Opposition: Christoph Ochs, Jana Papke, Frank Ebert, Olaf Weißbach, Rebecca Hernandez García, Tina Krone. Dieses Buch ist die erste Manifestation der Reihe Dissidente Geschichten zwischen DDR und pOstdeutschland, gefördert vom Beauftragten zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin.Sprachen: In deutscher und englischer Fassung erhältlich.Preis: 20 €
Versandpauschale: 4 €


INHALT

S 11 Vorwort

S 16 Nadia Tsulukidze: Big Bang Backwards/Urknall Rückwärts
Dokument: Skizze Bühnenbild zur Inszenierung „Die Nebelschlucht“ von John M. Synge
S 40 Ernest Ah, Sabrina Saase und Lee Stevens vom Kollektiv der Raumerweiterungshalle:
gemeinsam unerträglich. ein dokumentarisches mosaik
Dokument: Die private Selbstverteidigungsgruppe stellt ihre Arbeit vor. K., nach S. mit dem Fuß tretend
S 68 Anna Zett: Deponie
Dokument: Urkunde – 40 Jahre DDR
S 86 Elske Rosenfeld: A Vocabulary of Revolutionary Gestures. Versuche, Framed
Dokument: Bärbel Bohley, Niemandsland
S 110 Was vergangen ist, kann einem nicht mehr weggenommen werden
Irena Kukutz im Gespräch, 2009
S 122 Bindungen, die über eine gewöhnliche Freundschaft hinausgingen
Samirah Kenawi im Gespräch, 1999
S 138 Peggy Piesche: Leerstelle (im) Archiv
Dokument: Bericht über die Sicherheit für das Leben ausländischer BürgerInnen in Berlin (Ost) in den letzten Monaten
S 152 Elsa Westreicher: Transparenz, Intimität, Dringlichkeit. Vor ein paar Morgen lagen Meilen zwischen Gestern und Morgen
Dokument: Zerschlagung der Stasi-Struktur Gegen neue Geheimdienste Kein Polizeistaat.
S 176 wildes wiederholen. material von unten. Bilder der AusstellungS 212 Dissidente Geschichten zwischen DDR und pOstdeutschland. Resonanzen und Reflektionen
Elske Rosenfeld und Suza Husse im Gespräch mit Katalin Cseh-Varga, Rebecca Hernandez García und Redi Koobak
S 234 Alex Gerbaulet + Mareike Bernien: Entlang der Silberstraße
Dokument: Pyramiden von Ronneburg (Uranabraumhalden der Wismut AG)S 256 Umwelt im Erweiterten Sinne
Gespräch mit Alex Gerbaulet, Anna Zett, Elske Rosenfeld, Mareike Bernien, Sebastian Pflugbeil, Suza Husse, Tim Eisenlohr und Gästen
S 278 Ich will dass niemand keinen Rest findet der Zeugnis wäre unserer Existenz
Gespräch mit Ernest Ah, Lee Stevens und Sabrina Saase vom Kollektiv der Raumerweiterungshalle, Elske Rosenfeld, Maria Josephina Bengan Making, Peggy Piesche, Rebecca Hernandez García, Samirah Kenawi, Suza Husse und Gästen
S 306 Ina Röder Sissoko + Suza Husse: Longing is my favorite material for engaging holes
Dokument: Lesben in der Provinz
S 330 Technosekte + Henrike Naumann: BRONXX
Dokument: DDR von Unten
S 356 Zu den Autor*innen
Team – Redaktion: Elske Rosenfeld und Suza Husse; Verlegerin: Chiara Figone/Archive Books; Gestaltung: Elsa Westreicher; Lektorat: Nine Eglantine Yamamoto-Masson; Übersetzung: Cordula Unewisse, Wilhelm von Werthern; Transkription: Jil Zepp, Julia Reinl; Korrektorat: Archive Books / Lena Heubusch; Fotografie: Emma Wolf Haugh, Jil Zepp, Suza Husse; Bildbearbeitung: Hannes Wiedemann
© Die Autor*innen, die Herausgeber*innen, Archive Books, District*Schule ohne Zentrum 2019.

Klaus Wolfram: 89er Revolutionär und Verleger

Ich freue mich wahnsinnig, dass dieser unglaublich kluge und wichtige Mensch, Klaus Wolfram, nun endlich ein erstes wichtiges Mal, die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient – hier in einem Gespräch mit Mark Siemons in der FAS.* Ich hatte 2010 und letztes Jahr zusammen mit Jan Wenzel, die tolle Gelegenheit, Wolfram ein zweites Mal zu interviewen

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– wir haben einen kurzen Auszug daraus in “Das Jahr 1990 freilegen” veröffentlicht.

Wolfram war  ein klassischer Dissident, aktiv in einer kritischen marxistischen Gruppe und bis zu seinem Ausschluss Mitglied der SED; 1989 Koordinator der Programmkommission des Neuen Forum und Mitglied im Landessprecherrat des des Neuen Forums. Er gründete Ende 1989 den Basisdruck Verlag mit – der u.a. die neugegründete Wochenzeitung die andere herausgab. Eine Kurzbio mit Links zu Wolfram findet sich hier.

Ich hatte bereits 2010 das ungeheure Vergnügen, Wolfram im Zuge meiner Recherchen zum Verfassungsentwurf des Runden Tischs (> siehe z.B. hier), damals noch in den alten Verlagsräumen in der Schliemannstraße im Prenzlauerberg interviewen zu dürfen. Wolfram war nicht nur maßgeblich an der Formulierung des Verfassungsentwurfs beteiligt gewesen, sondern lancierte mit der Veröffentlichung des Entwurfs bei Basisdruck auch die – letzendlich vergebliche – Kampagne und Unterschriftensammlung um ihn, wie geplant zur Diskussion und Volksentscheid zu stellen. (Mehr dazu hier.)

Im Sommer 2019 war Klaus Wolfram im Vorlauf unseres Treffens zunächst sehr zögerlich gewesen, einem Interview zuzusagen; wie andere aus den linken bürgerbewegten Kreisen der DDR ist er nicht nur sehr zurückhaltend, sondern, so schien mir, auch aufgrund schlechter Erfahrung sehr vorsichtig damit, sich selbst in eine Geschichtsschreibung und eine Gedenkkultur der für viele lebensprägenden Erfahrung 1989/90 einzutragen, der ebendiese Erfahrung immer wieder einhegt, enteignet oder ihr gar mit unverständigem Misstrauen begegnet. Ich würde mich freuen, wenn Wolframs Stimme, solange wir Stimmen wie seine noch haben, beitragen könnte, einen kritischen Diskurs aus ostlinker/ostintellektueller Perspektive Raum zu geben, der uns seit 30 Jahren bitter fehlt und der jetzt nicht nur von jener jungen Generation Ostlinker getragen werden kann und sollte, die diesen Fragen – gottseidank – endlich auch für die größere Öffentlichkeit Gehör verschaffen.

*Wolfram hatte mit seiner Rede an der Akademie der Künste zum Jahrestag des Mauerfalls für einen Eklat gesorgt, der die Anwesenden, offensichlich so automatisch wie säuberlich in begeisterte Ostdeutsche und verständnislose Westdeutsche teilte. Die Rede kann hier nachgelesen werden: https://hoywoy-stories.de/unsere-kuenstlerischen-eliten-eklat-rede-aus-berlin/

Statement for the Future: Documentation

Through a very lucky twist of fate I got to spend the days between the 102nd anniversary of the start of the Russian revolution and the 30th anniversary of the beginning of the end of the East German revolution – 7th to 9th of November – in Bucharest in the company of a bunch of artists and activists, young and old from Bucharest, Budapest, Cluj, Timisoara, Prague, Warsaw, Bratislava, St. Petersburg, Kyiv…

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I was invited to give a “statement for the future” as part of “Upon us all equally” , organised by the tranzit network, in the amazing Sala Omnia/ Former Communist Party assembly hall. You can watch documentation of my 15 min statement, assembled from manifestos, lists of demands, public statements of groups and individuals, dissidents, work collectives, women’s and lesbian and gay organisations from the autumn and winter of 1989/90 here:

Netzwerk Ost

Die Seite http://netzwerk-ost.org/ ist seit einigen Tagen online. Entstanden bzw. am Entstehen im Austausch von Gruppen und Personen, die dieses Gedenkjahr 2019 zum Anlass nehmen möchten, die linke Geschichte der Revolution von 1989/90 und der DDR- und Nachwende-Opposition wieder ins Bewusstsein zu rufen. Ihr findet hier eine tolle Material- und Büchersammlung zum Thema sowie einen Terminkalender mit relevanten Veranstaltungen der beteiligten Initiativen und Personen.

Bini Adamzcak “1917-1989-2019”

In ihrem Videobeitrag zu unserem Panel “Nach dem Protest“ beim Festival “Palast der Republik” im Haus der Berliner Festspiele erinnert Bini Adamzcak – am Tag des Frauen*streiks, 8.März 2019 – an die verlorenen und verschütteten geschlechterpolitischen Vorschläge bzw. Praktiken der Revolutionen 1917 und 1989 und zieht eine historische Linie von einem Moment des Aufeinandertreffens feministischer / frauenbewegter Traditionen Ost-West zu emanzipatorischen Projekten der Gegenwart.

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Text: Bini Adamzcak
Kamera und Schnitt: Kornelia Kugler

Konzipiert für das Panel: “Nach dem Protest. Der Runde Tisch, sein Verfassungsentwurf, deren Werdegang und Aktualität”
mit Almuth Berger, Tatjana Böhm, Susan Buck-Morss, Bernd Gehrke, Max Hertzberg, Bernhard Schlink
Videobeitrag: Bini Adamzcak
Konzept & Moderation: Kerstin Meyer & Elske Rosenfeld