Geschichtspolitik von oben?

Mein Text Geschichtspolitik von oben? Gedanken zum geplanten Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit ist im Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Ich nehme dort noch mal die Planung eines solchen Zentrums zum Anlass einer Befragung des Standes der Aufarbeitung der DDR- und Wende-Geschichte und ihrer Institutionen. Ich plädiere, anhand einer Neubewertung ostdeutscher Protestgeschichte ab 1989, dafür, die von allen (und insbesondere den vom Nationalismus und Rassismus der Nachwendejahre zusächlich belasteten migrantischen oder nicht-weißen) Ostdeutschen erbrachten Leistungen und erlittenen Verletzungen einer angemessenen Aufarbeitung zu unterziehen – und zwar “von unten”.

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Wie eine Einheit feiern, deren Erfolg seit einigen Jahren durch unüberhörbaren Unmut in Ostdeutschland zumindest diskussionswürdig erscheint? Vor dieser Aufgabe stand 2020 die vom Bundesinnenministerium eingesetzte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”. Die Idee der Kommission, die bevorstehenden Jahrestage vor allem auch zum Anlass einer Untersuchung der Stimmungslage in Ostdeutschland zu nehmen und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen für die Bundesregierung zu entwickeln, um bestehende Defizite beim Zusammenwachsen abzubauen, war darauf sicher nicht die schlechteste Antwort. 22 Mitglieder aus Politik, Kultur und Wissenschaft gehörten ihr bis Ende 2020 an, 65 Millionen Euro umfasste der Etat für zwei Jahre.

In ihrem Abschlussbericht,[1] den sie am 7. Dezember 2020 in der Bundespressekonferenz vorgestellt hat, bezeichnet die Kommission die deutsche Einheit nun als zumindest unabgeschlossen. Die Autor*innen machen sich stark dafür, „Defizite und Fehlentwicklungen“ im Einheitsprozess zu benennen und „die Debatte über Stand und Zukunft der inneren Einheit unseres Landes auf eine neue Grundlage“ zu stellen. Sie konstatieren, dass Folgeprobleme der Einheit, wie Arbeitslosigkeit und Abwanderung, unter Ostdeutschen zu „Aussichts- und Hoffnungslosigkeit“, politischer und gesellschaftlicher „Verdrossenheit“ und „Entfremdung“ geführt haben. Sie problematisieren die fehlende Sichtbarkeit und Würdigung der Lebensleistungen Ostdeutscher und ihre Unterrepräsentanz in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Führungspositionen.

Mit ihren Handlungsempfehlungen wollte die Kommission diesen Missständen gegensteuern. Ein Kernstück der Empfehlungen, die am 8. Dezember 2020 auch öffentlich zugänglich online publiziert wurden, ist die Einrichtung eines „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ in Ostdeutschland, als Ort der „praxisorientierten Auseinandersetzung mit Geschichte.“ In einem interdisziplinären Kompetenzzentrum, eingerichtet in einem „identitätsstiftenden“ Gebäude in Ostdeutschland, sollen die Leistungen und Erfahrungen der Ostdeutschen in der Transformation verarbeitet und für die Zukunft nutzbar gemacht werden. Das Zentrum soll ein wissenschaftliches Institut, ein Dialog- und Begegnungszentrum und ein Kulturzentrum umfassen, Preise und Stipendien vergeben, Konferenzen und Ausstellungen ausrichten und Formen des Austauschs im und jenseits des Zentrums organisieren.

Das Bundeskabinett griff die Handlungsempfehlungen der Kommission im März 2021 auf und setzte neben einer am Bundesinnenministerium angesiedelten Lenkungsgruppe eine achtköpfige Arbeitsgruppe ein, die schon bis Ende Juni 2021 ein „detailliertes Konzept“ zu den Aufgaben und Arbeitsweisen eines solches „Zukunftszentrums für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“ erstellen soll.[2] Zu Mitgliedern dieser AG wurden berufen: Brandenburgs ehemaliger Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der parlamentarische Staatssekretär und Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), die SPD-Politikerin Katrin Budde aus Sachsen-Anhalt, der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU), der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen, die Demokratieforscherinnen Astrid Lorenz aus Leipzig und Gwendolyn Sasse aus Berlin sowie der Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, der Politologe und Publizist Basil Kerski.

Mein Text soll die Potenziale, aber auch mögliche Fallstricke einer solchen Einrichtung aufzeigen. Auf welche geschichts- und diskurspolitische Situation reagiert der Vorschlag für dieses Zentrum? Auf welche Defizite in der bisherigen Aufarbeitung ostdeutscher Transformationsgeschichte will, kann oder müsste es reagieren? Welche Formen der Umsetzung des Vorschlags wären einer solchen Aufgabe angemessen? Welche Fehler in der bisherigen staatlichen Aufarbeitungspolitik gilt es zu vermeiden?

Ich nähere mich diesen Fragen im Folgenden aus der Perspektive meiner eigenen langjährigen forschenden und künstlerischen Beschäftigung mit der Geschichte der Revolution von 1989/90 und ihrer Vor- und Nachgeschichte und verstehe diesen Text als Anregung und Beitrag zu einer hoffentlich regen Diskussion zu dem vorgeschlagenen Zentrum und seinen Themen.

 

Zwischen Currywurst und Spitzelstaat: Darstellungen von DDR-Geschichte und -biographien bis 2014

Der durch die Coronapandemie in den Medien weitgehend untergegangene Bericht der Kommission ist zunächst Zeugnis und sicher auch Produkt einer Öffnung und Diversifizierung des Umgangs mit ostdeutscher Geschichte und ostdeutschen Biographien. Noch die Feierlichkeiten des letzten größeren Jubiläums von „Mauerfall und deutscher Einheit“ in den Jahren 2014/15 bewegten sich irgendwo zwischen „Trabbi, Mauer und Currywurst“ auf der einen und Unrechtsstaat und Diktatur auf der anderen Seite[3] und verdeutlichten damit auch den Stand der Debatte zur DDR-Geschichte. Wenn über die DDR gesprochen oder zur DDR geforscht wurde, geschah dies ab 1990 entlang eines aus dem Kalten Krieg übernommenen binären Erzählmusters: hier der freiheitliche Westen als Normalität, dort der totalitäre, repressive Staatsozialismus als historischer Irrweg, der 1989 glücklich und endgültig überwunden wurde. Viele Ostdeutsche – von denen zu diesem Zeitpunkt laut Umfragen 74 Prozent den Sozialismus für „eine gute Idee, die nur schlecht umgesetzt wurde“[4] hielten – fanden sich in einer solchen Erzählung aber nicht wieder. Ihre Lebensleistungen ließen sich in einer auf Repression und Widerstand reduzierten Geschichte weder würdigen noch überhaupt erst einmal erzählen. In den westdeutsch dominierten Medien tauchten ostdeutsche Leben als Klischees auf – oder gar nicht. [5] Es entstand der „Eindruck” – wie es die Kommission zurückhaltend formulierte –, dass die Ostdeutschen in der öffentlichen Debatte nicht angemessen vorkämen. Und wer meint, durch den starken Fokus auf das Thema Stasi wäre wenigstens die Aufarbeitung dieses einen Themas gelungen, sei an den heftig geführten Streit um die Ernennung Andrej Holms zum Staatssekretär für Wohnen in Berlin 2017 erinnert, der eindrücklich zeigte, dass der gegenwärtige Stand der Debatte sich eher für tagespolitische Instrumentalisierungen als für eine tatsächliche Verständigung jenseits simpler Opfer-Täter-Schemata eignet.[6]

Es ist bitter, dass es scheinbar erst die ab 2015 von Pegida und AfD betriebene Skandalisierung und Funktionalisierung ostdeutscher Fehlentwicklungen brauchte, um eine breitere Debatte zu und Neubewertung der Transformation in Ostdeutschland zu erzwingen. Es ist daher ein wichtiger Schritt nach vorne, dass sich die Kommission mit ihrem Bericht und ihren Vorschlägen der ostdeutschen „Entfremdung und Verdrossenheit“ jetzt annimmt und diese „klar zu benennen und ihnen möglichst umfassend entgegenzuwirken“ als eine zentrale gesamtgesellschaftliche und staatliche Aufgabe verstanden wissen möchte.

Eine solche Neubewertung müsste aber notwendigerweise mit einer kritischen Befragung der bislang verwendeten Begriffe und Narrative anfangen. So erweist sich, wie ich im Folgenden kurz ausführen möchte, schon das Reduzieren des Umbruchs und der Transformation in Ostdeutschland ab 1989 auf den Begriff der „deutschen Einheit“ für eine Würdigung der, auch demokratischen, Leistungen der Ostdeutschen und eine Bewertung ihres politischen Engagements und Interesses als unzureichend.

 

Transformationsgeschichte ist Revolutionsgeschichte: Die Revolution von 1989/90 als unvollendete demokratische Ermächtigung erzählen

 

Im April 2019 sprach die Bundesregierung in ihrem Einsetzungsbeschluss zur „Durchführung der Feierlichkeiten ‚30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit‘“ davon, dass diese „Jubiläumsjahre“ auch dazu dienen sollten, ein „Bewusstsein“ dafür zu schaffen, „dass die Deutsche Einheit ein Prozess ist, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Jubiläumsjahre sollen das gemeinsame und gegenseitige Verständnis für die Leistungen fördern, die zur Wiedervereinigung geführt haben und für das Zusammenwachsen von Ost und West erbracht wurden“.7 Doch damit blieben erneut all jene Aspekte und Hoffnungen des Umbruchs von 1989/90 unerwähnt, die über die Übernahme der „real existierende[n] Demokratie vom Rhein“ hinausgingen, wie sie Joachim Gauck einmal definierte.8 Eine solche Erzählung der Revolution von 1989/90 entlässt deren Akteur*innen nicht als Träger einer radikalen und alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifenden kollektiven Selbstermächtigung in die Post-Revolution, sondern als „Lehrlinge“9 oder – buchstäblich – als Kinder.10 Sie setzt so den Ton für genau jene eigentlich kritisierte Herabwürdigung von Ostdeutschen, welcher die Kommission mit dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte.

Es ist insofern ein gutes Zeichen, dass sich die Kommission 2019/20 entschied, die Liste der zu feiernden Ereignisse um eine Reihe weiterer „Meilensteine”, darunter auch das Gründungstreffen des Neuen Forums im September und die Montagsdemonstrationen am 9. Oktober 1989, zu ergänzen.

Ein solches erweitertes Verständnis der Revolution von 1989/90 sollte sich entsprechend auch in der von der Kommission vorgeschlagenen Würdigung der Transformationsleistungen der Ostdeutschen niederschlagen. Forschung und Dialog im geplanten Zentrum sollten sich, neben der Geschichte von 1989/90 als Einheitsgeschichte, auch dessen annehmen, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Viele der Vorschläge der damals Engagierten für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung oder für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit, sind auf dem eher westdeutsch dominierten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben – erscheinen aber 30 Jahre später so aktuell wie hellsichtig.11

 

Kein Gejammer: Ostdeutsche Protestgeschichte ab 1989

Mit einem solchen erweiterten Ansatz ließe sich anerkennen, dass die post-DDR-Bürger*innen ihre Transformationsleistungen nicht nur unter dem Vorzeichen des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens, sondern auch jenes Möglichkeitsraums erbracht haben, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Die massive ostdeutsche Protestbewegung der frühen 1990er Jahre ließe sich, statt sie als typisches „Jammerossitum“ abzutun, in Kontinuität mit einem demokratischen Selbstbestimmungsanspruch untersuchen, der nach dem 3. Oktober 1990 nicht erlosch, sondern nun vielmehr auf die neuen Verhältnisse angewendet wurde.[7] Circa 150 bis 200 Streiks, Betriebsbesetzungen und andere Proteste pro Jahr zwischen 1991 und 1994[8] müssten in diesem Sinne nicht als eine „zweite Revolution im Osten“,[9] sondern als Fortsetzung der ersten analysiert werden.[10]

Die Enttäuschung vieler Ostdeutscher nach 1990 entspringt auch der großen Fallhöhe zwischen ihrem 1989 erlernten demokratischen Anspruch und der von der Treuhand propagierten Politik wirtschaftlicher Sachzwänge. Statt die begonnenen demokratischen „Experimente“ zu verstetigen, wurde der Osten nun zu einem Labor einer so in Europa noch nie gesehenen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft,[11] die – teils bis heute – als alternativlos deklariert wird. Die demokratischen Defizite einer solchen „Transformation von oben“12 müssen in dem geplanten Zentrum diskutierbar werden, wenn die von der Kommission gewünschte Anerkennung ostdeutscher Enttäuschungen und Verletzungen gelingen soll. Der für das Zentrum vorgeschlagene osteuropäische und transnationale Rahmen könnte sich hier als hilfreich erweisen. Die Geschichten der oft erfolgreicheren osteuropäischen Alternativen sind gut geeignet, die behauptete Unumgänglichkeit der ostdeutschen Schockprivatisierung zu überprüfen.[12]

Auch die Frage nach der Politverdrossenheit der Ostdeutschen und ihrem vermeintlich fehlenden politischen Engagement, dem „geringe[n] Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen“, die den Bericht und die Vorschläge der Kommission durchzieht, ließe sich so jenseits abwertender Stereotype noch einmal anders und produktiver darstellen. Die signifikante Protesterfahrung der Ostdeutschen, die sich nach 1990 nicht nur in den Anti-Treuhandprotesten (1991-94), sondern auch in Montagsdemonstrationen gegen den Irakkrieg (2003) und gegen Harz IV (2004) manifestierte, könnte als Zeichen eines durchaus vorhandenen, aber als wenig wirkmächtig erlebten, spezifisch ostdeutschen politischen Engagements untersucht und gewürdigt werden. So ließe sich auch der 2014 begonnenen Aneignung ostdeutschen Protests durch Rechtspopulisten und Rechtsextremisten begegnen.

 

Gegen eine rechte Vereinnahmung: Nationale Narrative feiern oder hinterfragen?

Es ist gut, dass die Kommission diese Aneignung und Mobilisierung ostdeutscher Frustrationen problematisiert und ihr mit ihren Vorschlägen und in dem geplanten Zentrum entgegenwirken möchte. In Zeiten, in denen gerade im Osten zivilgesellschaftliches Engagement oft mittels einer kruden Rechts-Links-Gleichsetzung diskreditiert und finanziell eher entwertet als gefördert wird, könnte das Zentrum so tatsächlich gegensteuern und ein wichtiges Zeichen setzen.

Der Bericht der Kommission wirft aber Fragen auf, wenn er seine Vorschläge, auch die für das Zukunftszentrum, mit einem Aufruf zu einem stärkeren deutschen Nationalbewusstsein, einem „positiven demokratischen Patriotismus“, einem „heiteren Feiern“ des Nationalen verbindet. Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern, noch überdeutlich anzumerken ist.

So leisten der Bericht und seine Vorschläge einem Feiernationalismus Vorschub, der schon in den 1990er Jahren nicht als harmloses Wohlfühldispositiv funktioniert hat. Westdeutsche mit türkischen Wurzeln[13] und Schwarze (Ost)deutsche[14] haben damals erleben müssen, wie sie aus dem gemeinsamen Feiern der Revolution im Osten in dem Maße ausgeschlossen wurden, wie daraus das nationale Projekt der sogenannten deutschen Wiedervereinigung[15] wurde. Die Kommission wiederholt diese Ausschlüsse nun in Inhalt und Form. Die nahezu rein „biodeutsche“ Zusammensetzung der Kommission zieht aus meiner Sicht auch inhaltliche Schieflagen nach sich. So fehlt mir im Bericht die Anerkennung der Tatsache, dass sich auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Vertragsarbeiter*innen, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, in der post-DDR ein neues Leben aufbauten. Ihre Lebensleistungen gehören aber zur ostdeutschen Transformationsgeschichte, ebenso wie ihre Erfahrungen mit Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen befördert und von drastischen Einschränkung des deutschen Asylrechts flankiert wurde. Diese Zusammenhänge zwischen dem Wiedererstarken nationaler Narrative ab 1990 und dem, was in den letzten Jahren unter dem Hashtag „Baseballschläger-Jahre“ diskutiert wurde, gehören unbedingt in das Themen- und Forschungsspektrum des geplanten Zentrums, finden aber in Bericht und Vorschlägen keine entsprechende Berücksichtigung.

Die fehlende Sensibilisierung und Expertise zu migrantischen Perspektiven schlägt im Bericht leider noch an anderen Stellen negativ zu Buche. So werden Forderungen für mehr Engagement gegen „Fremdenfeindlichkeit“ in den Handlungsempfehlungen mit der Notwendigkeit begründet, (ausländische) „Talente“ nicht zu verprellen. So knüpft man das Recht von Menschen, nicht rassistisch beleidigt oder angegriffen zu werden, an das Erbringen wirtschaftlicher Leistungen. Und wenn die Notwendigkeit, „Zugewanderte“ mit den kulturellen Aktivitäten des Zukunftszentrums zu „erreichen“, damit begründet wird, für diese sei „die Verinnerlichung der europäischen Werte von hoher Bedeutung”, unterstellt das implizit, dass ihnen diese Werte prinzipiell fremd oder äußerlich wären. Solch eine Formulierung ist besonders problematisch, wenn man bedenkt, dass Geflüchtete Europa und seinen praktizierten Werten aktuell häufig als allererstes in Form eines gewaltvollen und oft tödlichen europäischen Grenzregimes begegnen. Hier sollte sich die Bundesregierung bei der weiteren Planung des Zentrums dringend sensibilisieren und die nötige Expertise einholen.

 

Wi(e)der eine Geschichtspolitik von oben? Zur Form des Zentrums und seiner Planung

Das wirft die grundsätzlichere Frage auf, was es heißt, die vorgeschlagene staatliche Förderung von Forschen und Erinnern an eine zentrale Einrichtung und einen repräsentativen Auftrag zu binden. Die Kommission sieht den Vorteil des geplanten zentralen Ansatzes in der Bündelung von Kompetenzen und Aufgaben und der so möglichen Intensivierung des Austauschs. Es ist nachvollziehbar, dass sie so zwischen den sehr unterschiedlichen, teils antagonistischen Narrativen zum und im Osten vermitteln möchte. Aber eine solche Zentralisierung und staatliche Lenkung des Erinnerns birgt auch Gefahren.

Die Sensibilität gegenüber Versuchen einer staatlich gelenkten Geschichtsdeutung oder gar Belehrung oder Umerziehung ist im Osten zu Recht groß.[16] Die Transformationsleistungen, die im Zentrum gewürdigt werden sollen, sind von Ostdeutschen von unten und oft entgegen staatlicher Politiken erbracht worden. Dem gilt es, auch in der Form ihrer Aufarbeitung Rechnung zu tragen. Das Bemühen darum ist dem Vorschlag an vielen Stellen anzumerken. Aber es gerät in Konflikt mit dem bereits erwähnten Primat einer prinzipiell positiven Bewertung der Deutschen Einheit. Was passiert mit Stimmen, die ihre Kritik nicht in ein solches Narrativ vereinnahmt wissen wollen? Kritischen Stimmen innerhalb der Arbeit des Zentrums Raum zu geben, ist nötig und wichtig, aber es braucht auch eine kritische und gleichberechtigte Auseinandersetzung zwischen dem Zentrum und anderen Ansätzen, Akteur*innen und Institutionen. Wenn das Zentrum das Erinnern und die Forschung zur Transformation auf die im Bericht anklingende Weise an einen staatlichen Auftrag bindet, dann könnte es im Hinblick auf die geforderte größere Vielfalt möglicherweise mehr Schaden anrichten als helfen. Fatal wäre zum Beispiel, wenn anderen Akteur*innen im Zuge der Einrichtung des Zentrums Gelder zur Bearbeitung vergleichbarer Themen entzogen oder Projektanträge bei anderen, offeneren Förderungen mit Verweis auf dessen Existenz abgelehnt würden.

Genau diese Wirkung ist in den vergangenen Jahren aber bereits einem prominenten ostdeutschen Erinnerungsprojekt vorgeworfen worden: der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.[17] Ihre Geschichte bietet ein wichtiges Beispiel für die Probleme, die mit an einen staatlichen Auftrag geknüpften Aufarbeitungsprojekten einhergehen können. Die Stiftung wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter (Enquete-)Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist. Sie hat so maßgeblich zu der oben beschriebenen, von vielen Ostdeutschen als zu eng empfundenen Ausrichtung der DDR-Geschichtsschreibung beigetragen. Der DDR-Bürgerrechtler und Historiker Thomas Klein hat im Herbst 2020 beschrieben, wie kleinere und prekärere nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung aus bürgerbewegten Kreisen, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollten, sich entweder in Antizipation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten.[18] Auch der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – eine der bekanntesten Stimmen der bisherigen DDR-Aufarbeitung und zeitweise Mitglied der Kommission – hat der Stiftung in der Vergangenheit eine „Monopolisierung und Verstaatlichung der DDR-Forschung“ vorgeworfen.[19] Problematisch ist hier also nicht der inhaltliche Fokus auf Repression und deren Opfer an sich, sondern dass dieser durch die privilegierte Stellung der Stiftung den Platz einer breiter gefächerten DDR-Aufarbeitung einnimmt.

Die Bundesregierung und die mit der Planung des Zentrums Beauftragten sollten auf diese Vorerfahrungen achten und deutlicher als im vorliegenden Bericht erklären, wie man vergleichbaren Prozessen in Bezug auf das geplante Zentrum vorbeugen und eine diverse und kontroverse Debatte zur Aufarbeitung der Nachwende innerhalb und jenseits des geplanten Zentrums gewährleisten möchte.

 

Fazit: Von der Aufarbeitung in die Debatte

In einem Interview anlässlich seiner Amtseinsetzung 2017 lehnte der Berliner Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Tom Sello, die Forderung nach einer Aufarbeitung der Verwerfungen der Nachwendezeit noch mit der Begründung ab, dies sei nicht Aufgabe eines Beauftragten, sondern Gegenstand der „politischen Auseinandersetzung“ und einer „demokratisch legitimierte[n] politische[n] Willensbildung und Entscheidungsfindung“.[20] Doch was ist Aufarbeitung, wenn sie letzteres nicht ist? Und was heißt es, wenn nun doch auch die Geschichte ab 1990 zum Gegenstand vergleichbarer staatlicher Erinnerungspolitiken gemacht wird?

Im Idealfall könnten neu ausgerichtete Fördermechanismen dazu beitragen, Ostdeutsche endlich vom Objekt zum Subjekt von Geschichtsschreibung und Zukunftsplanung werden zu lassen. Forschung und kulturelle Programme könnten die Erfahrung von Revolution und Transformation zum Ausgangspunkt einer kritischen Befragung des krisenbehafteten Heute machen.

Um der Idee einer Einrichtung gerecht zu werden, die nah an den Lebenserfahrungen der Ostdeutschen angesiedelt wäre, sollte die Debatte zur Ausrichtung und Gestaltung eines solchen Zentrums allerdings nicht, wie aktuell geplant, nur von einer kleinen, vom Bundesinnenministerium eingesetzen Arbeitsgruppe, sondern von einer breiten Öffentlichkeit geführt werden. Dem Zentrum eine Form zu geben, die ihrem inhaltlichen Fokus, der Transformationsleistung der Ostdeutschen, entspräche, hieße, seine Planung und das Gespräch zu den damit verbundenen Wünschen und Befürchtungen möglichst öffentlich, möglichst ergebnisoffen und möglichst „von unten“ zu gestalten. Mein Text versteht sich als Beitrag – auch Aufruf – zu einem solchen Austausch.

 

Bio-Bibliografie des Autors / Der Autorin

Elske Rosenfeld (geb. 1974, Halle/S.) forscht als Künstlerin, Autorin und Kulturarbeiterin zur Geschichte der Dissidenz in Osteuropa und zu den Ereignissen von 1989/90.  In ihrem aktuellen künstlerischen Forschungs- und Buchprojekt „A Vocabulary of Revolutionary Gestures” untersucht sie den Körper als Austragungsort und Archiv politischer Ereignisse.

 

[1] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit”, Berlin, 7.12.2020.

[2] Bundesregierung, Stellungnahme zum ‘Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, Drucksache 19/28060, 23.3.2021. Behandelt im Bundeskabinett am 17.3.2021, TOP 4, https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/kabinettssitzungen/themen-im-bundeskabinett-ergebnisse-1877668, zuletzt aufgerufen am 05.6.2021.

[3] Siehe: 25 Jahre Deutsche Einheit, http://www.mauerfall-berlin.de/deutsche-einheit/25-jahre-deutsche-einheit-2015/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[4] Vgl.In deutschen Köpfen: Wie Ost und West seit der Einheit denken, Statistiken 1991 bis 2010www.zeit.de/gesellschaft/deutschland-ost-west-umfragen.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[5] Diese mediale (Nicht-)Behandlung ostdeutscher Themen ist in den letzten Jahren vielfach problematisiert worden; siehe z.B. Stefan Locke, Wie aus dem Kongo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wie-berichten-medien-ueber-ostdeutschland-16981516.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

[6] Vgl. Elske Rosenfeld, Zur „Causa Holm”, Teil 1, auf: Dissidencies (blog), 20.12.2016, http://dissidencies.net/causa-holm-1/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.
7 Vgl. Fußnote 2, Abschlussbericht, S. 106.

[6] Vgl. Deutscher Bundestag – Rede von Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 9.11.1999, https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/gorbatschow/gauck-247418, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

9 Ebd.

10 Boris Buden beschreibt diesen Vorgang in Zone des Übergangs: Vom Ende des Postkommunismus, Frankfurt/M. 2009, S. 34, wie folgt: „Menschen, die in den demokratischen Revolutionen 1989/90 gerade ihre politische Reife bewiesen haben, sind über Nacht zu Kindern geworden!”.

11 Vgl. Elske Rosenfeld, Noch einmal eintauchen in die Zeit der Wende, in: Der Tagesspiegel, 7.3.2019, https://www.tagesspiegel.de/kultur/haus-der-berliner-festspiele-noch-einmal-eintauchen-in-die-zeit-der-wende/24073106.html, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

12 Vgl. zur Begrifflichkeit der Transformation „von oben“ Michael Frisch/Michael Wyrwich, Ein langer Weg – Anpassungsprobleme in der ostdeutschen Unternehmenslandschaft, in: bpb-Dossier: Lange Wege der Deutschen Einheit 13.5.2020, https://www.bpb.de/47208, zuletzt aufgerufen am 08.5.2021.

13 Vgl. Jörg Roesler, Die Kurze Zeit der Wirtschaftsdemokratie. Zur „Revolution von Unten” in Kombinaten und Betrieben der DDR während des 1. Halbjahres 1990, Berlin 2005, S.46 f.

14 Dietmar Dathe, Streiks und Soziale Proteste in Ostdeutschland 1990 – 1994. Eine Zeitungsrecherche von Dietmar Dathe, Berlin, Dezember 2018, https://geschichtevonuntenostwest.files.wordpress.com/2019/02/dathe_streik-und-protest-ostdeutschland_final_1_17-mb.pdf, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

15 Diese Formulierung benutzt der Moderator eines TV-Interviews mit Detlev Karsten Rohwedder in Bezug auf die Proteste im Frühjahr 1991 – zu sehen in der Netflix-Dokuserie „Rohwedder: Einigkeit und Mord und Freiheit“ (2020).

16 Auch Klaus Wolfram, u.a. Vertreter des Neuen Forums am Zentralen Runden Tisch, benennt die Proteste gegen die Schließung des Kaliwerks in Bischofferode 1993 als eigentliches Ende der Revolution von 1989/90; siehe: Klaus Wolfram/Elske Rosenfeld/Jan Wenzel, Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen, Berlin 2020, https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/die-institution/publikationen/publikationen.html, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

17 Vgl. hierzu: Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009, S.41.

18 Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler bezeichnet es als „Paradoxon“, dass das deutsche Transformationsmodell, trotz wesentlich besserer Ausgangsbedingungen, im osteuropäischen Vergleich, gemessen z.B. am Bruttoinlandsprodukt der neuen Bundesländer, eher mittelmäßig abschneidet. In: Das ostdeutsche Paradoxon, Berlin 2016, S. 43.

19 Siehe z.B. Interviews mit türkischstämmigen Westberlinern in Can Candan’s Dokumentarfilm Duvarlar-Mauern-Walls (2000).

20 Interview mit Peggy Piesche über Lesben in der DDR: „Sichtbarkeit kann niemals nur die eigene sein“, in: Mädchenmannschaft (blog), 26.5.2015, https://maedchenmannschaft.net/interview-peggy-piesche-lesben-in-der-ddr-sichtbarkeit-kann-niemals-nur-die-eigene-sein/, zuletzt aufgerufen 21.4.2021.

21 Bei einem öffentlichen Gespräch im Sommer 2019 im FXHB Friedrichshain-Kreuzberg Museum erinnerte die Kulturwissenschaftlerin und Aktivistin Peggy Piesche daran, dass der Begriff „Wiedervereinigung“ sich 1990 direkt auf Nazi-Deutschland vor der Teilung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bezog.

22 Siehe z.B. Leserkommentare unter meinen Beitrag zum Thema in der Wochenzeitschrift Der Freitag: Elske Rosenfeld, Transformation – Post-DDR-Geschichte wird gemacht’, 17.2.21, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/post-ddr-geschichte-wird-gemacht, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

23 Ilko Sascha Kowalczuk, Historikerstreit über DDR-Forschung: Die Aufarbeitung ist gescheitert, in: Die Tageszeitung, 20.4.2016, http://www.taz.de/!5293270/, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

24 Thomas Klein, Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, telegraph (blog), 29.10.2020, https://telegraph.cc/erinnerungen-an-eine-revolution-oder-geschichte-einer-entfremdung/ zuletzt aufgerufen 21.4.21.

25 Kowalczuk, Historikerstreit über DDR-Forschung.

26 Thomas Rogalla, Interview mit Tom Sello: „Das Beste an der DDR war ihr Ende“, in: Berliner Zeitung, 27.11.2017, https://www.berliner-zeitung.de/berlin/interview-mit-tom-sello–das-beste-an-der-ddr-war-ihr-ende–28956728, zuletzt aufgerufen 21.4.21.

Post-DDR-Geschichte wird gemacht

Ende Dezember 2020 habe ich bei Fazit im Deutschlandfunk Kultur mit Vladimir Balzer über das geplanten „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ gesprochen. Ich habe dazu im Nachgang noch ein paar ausführlichere Gedanken formuliert – weil mir eine kritische Debatte zu der geplanten erneuten Institutionalisierung der post-DDR-Aufarbeitung sehr wichtig erscheint. Der Text ist jetzt im Freitag erschienen:

Im April 2019 fiel dem deutschen Innenminister Horst Seehofer ein, dass 2020 das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung anstand. Kurzfristig wurden 61 Millionen Euro mittels eines Mechanismus bereitgestellt, der normalerweise Naturkatastrophen und anderen Unvorhersehbarkeiten vorbehalten ist.

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Die rasch zusammengestellte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit – in der übrigens keine (!) einzige (!) nicht-biodeutsche Person zu finden ist – nahm wenig später die Arbeit auf. Diese schloss ihre Arbeit Anfang Dezember 2020 aber, auch Dank Corona, nicht mit den üblichen Feierlichkeiten, sondern mit einem Thesenpapier ab, das sich als ein Bericht zum Stand der Einheit und als Handlungsempfehlung versteht.

Kernstück der Vorschläge ist die Erschaffung eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, möglichst in einem zukunftsweisenden Gebäude, möglichst in der ostdeutschen Provinz. So ein Zentrum solle die Lebensleistung und Umbruchserfahrung der Ostdeutschen würdigen und nutzbar machen für kommende Transformationsprozesse. Das wäre sicher ein Schritt nach vorn. Die Lebensläufe der Ostdeutschen galten im vereinigten Deutschland bislang vor allem als defizitär. Lebensleistung im Osten vor 1989 galt als verdächtig, nach 1990 bestand sie vor allem in einer möglichst reibungslosen Anpassung an das neue System. Ein Perspektivwechsel wäre hier überfällig. Möglich, dass so ein Zentrum ihn leisten will. Doch was würde ein solcher bedeuten und wie könnte eine Institution aussehen, die ihn tatsächlich leisten kann? Die Blickrichtung wechseln hieße, die Erfahrungen des Lebens in der DDR und in der Revolutions- und Transformationszeit nicht nur als Objekt der Beforschung, sondern als Ausgangspunkt einer Befragung des Westens und des neoliberalen Heute zu nehmen – auf seine Widersprüche, sein permanentes soziales, demokratisches, ökologisches Scheitern hin. Es hieße auch, sich dem zuzuwenden, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Das ist an erster Stelle die radikale demokratische Selbstermächtigung der ostdeutschen Revolutionärinnen – weit über westliche repräsentative Formen der Demokratie hinaus. Das sind auch die Vorschläge der Runden Tische für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung, für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit. All dies waren Transformationsvorschläge, die in dem dann vornehmlich von westdeutschen konservativen und neoliberalen Akteurinnen gestalteten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben sind. Viele von ihnen erscheinen 30 Jahre später so hellsichtig wie aktuell.

Die Transformationsleistung der post-DDR-Bürgerinnen fand ab 1990 also unter dem Vorzeichen nicht nur des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens statt, sondern auch jenes Möglichkeitsraums, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Stattdessen wurde der Osten mittels der Treuhandanstalt zu einem Labor der anderen Art: einer in Geschwindigkeit und Umfang in Europa einzigartigen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft. Die ostdeutsche Transformationsgeschichte ist deshalb auch eine des Protests. Die Treuhand-Doku „Rohwedder“ rief die mit diesen vergessenen Kämpfen verbundene westdeutsche Angst vor einer „zweiten Revolution“ im Osten vor kurzem eindrucksvoll in Erinnerung. Die Revolution von 1989/90 endete also – nicht immer friedlich – in der als alternativlos kommunizierten Verheerung tausender Arbeitsbiographien und der Niederschlagung jedes Dissens’. Für eine Aufarbeitung in dem geplanten Zentrum wirft all dies Fragen an das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie auf, auf die das Bild des vermeintlich so demokratieunfähigen Ossis nicht nur die falsche, sondern überhaupt keine Antwort ist. Die Fragen anders zu stellen, wäre der Punkt. Transformationsgeschichte, wie im Titel des geplanten Zentrums angedeutet, (ost)europäisch zu denken, wäre sicher ein Beitrag hierzu. Die post-sozialistische Transformation lässt sich innerhalb einer transnationalen osteuropäischen Geschichte, in der sich durchaus erfolgreichere Alternativen zur deutschen Treuhandpolitik finden lassen, besser verstehen.

Aber auch die deutsche Transformationsgeschichte ist weder rein ost- noch rein biodeutsch. Eine vergleichbare Neuorganisation ihrer durch Deindustrialisierung, Liberalisierung und Sozialrückbau zunehmend präkarisierten Leben wurde wenig später auch Bergarbeitern und Stahlwerkerinnen im Ruhrpott und anderswo abverlangt. Und auch Migrantinnen und nicht-Biodeutsche, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, bauten sich neue Leben auf. Nur taten sie dies noch dazu unter den gewaltvollen Bedingungen eines grassierenden Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen ermöglicht und befördert worden war.

 Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern noch überdeutlich anzumerken ist. Einige Vorschläge – Freifahrtscheine für Menschen in Nationalfarben am 3. Oktober, Deutschlandfähnchen für Oberschülerinnen – klingen in Zeiten von Pegida gruselig und, für diejenigen, die sich noch an die DDR erinnern, auf groteske Weise vertraut.

All das wirft im Bezug auf das vorgeschlagene Zentrum eine weitere, über das inhaltliche hinausgehende, Frage auf: Was hieße es, wenn eine staatlicherseits in größerem Umfang bereitgestellte Förderung von Forschung und Austausch an die im Bericht skizzierte zentrale Institution und deren vorgegebenen Auftrag gebunden würde? Ein solches an eine staatlich vorgegebene Setzung geknüpftes Erinnerungsprojekt gibt es im Bezug auf die DDR-Geschichte bereits. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter Enquete-Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist. Thomas Klein hat kürzlich im telegraph beschrieben, wie kleinere, nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollen, sich in entweder in Antizipiation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck, den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten. Was in diesem Rahmen nicht erzählt werden konnte, fiel in den letzten drei Jahrzehnten folglich, statt einer differenzierten Aufarbeitung, einer ostalgischen Schattenerzählung eines „Es war doch nicht alles schlecht“ anheim.

Wenn der Staat nun also für eine Aufarbeitung der Transformationsgeschichte/n Geld in die Hand zu nehmen bereit ist – was er dringend sollte –, wäre es wichtig, dass er die Vergabe desselben nicht erneut über politische und begriffliche Vorgaben in bestimmte Richtungen zwängt und andere verschließt. Die Bewertung der deutschen Einheit und Transformation sollte hier nicht bereits, auf die im Bericht anklingende positive Weise Ausgangspunkt, sondern eher Inhalt und Ziel einer zu fördernden offenen und kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein. Um das zu erreichen, täte eine breite Debatte zur Ausrichtung bzw. eben gerade Offenheit der geplanten Einrichtung not. Der im Bericht formulierte Vorschlag, die Bundesregierung solle zur Ausgestaltung eines detaillierten Konzeptes, der Aufgaben und Ausrichtung des Zukunftszentrum “aus der Kommission heraus eine Arbeitsgruppe berufen”, klingt leider erst mal nicht danach. Parteilinie ick hör dir trapsen. Oder, wer das Geld verwaltet, setzt den Diskurs.

Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990 einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen

Das Gespräch zwischen Klaus Wolfram,  Jan Wenzel und Elske Rosenfeld
ist jetzt als HBF Edition #29 erschienen und kann HIER als pdf heruntergeladen werden. Das Heft basiert auf zwei Gesprächen, die ich 2010 und 2020 (mit Jan Wenzel) mit Wolfram geführt habe.  Im Gespräch geht es u.a. um Wolframs Arbeit in dem von ihm 1989 gegründeten BasisDruck Verlag, die Zeitung “die andere”, revolutionäre Öffentlichkeiten und die Möglichkeiten und das Scheitern der Revolution von 1989/90.
Zwei fast zeitgleich im telegraph erschienene Texte seien hier noch zur parallelen Lektüre empfohlen:

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Eine kurzfristig erscheinende Flugschrift von Wolfgang Rüddenklau zur Frühgeschichte des telegraph, Schwesterblatt der von Wolfram (und anderen) heraugegebenen “anderen zeitung”, mit einigen direkten Doppelungen mit Wolfram’s Erzählung.

und

Thomas Kleins ausführliche und detailreicher Abriss Erinnerungen an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, der sich im Bezug auf das Scheitern und innere Zerwürfnis der Bürgerbewegungen und die Kritik der Aufarbeitungsszene gut mit den Geschichten von Klaus Wolfram quer lesen lässt.

 

Wackeliges Gedenken

In diesem im Freitag erschienenen Text gehe ich der Frage nach, wie die Geschichte der von den Ostdeutschen so gewollten Einheit derart wirkmächtig werden konnte, dass sie nicht nur von ihren Profiteuren (und maßgeblichen Autoren), den westdeutschen Konservativen, sondern auch von vielen, denen sie im Prinzip schadet – den Ostdeutschen und den Linken Ost wie West – bis heute quasi unhinterfragt angenommen wird. Ein Vorschlag, diese Geschichte ab 2020 noch einmal anders zu schreiben.

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“Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr.“ So steht es auf einem Banner einer Demonstration in Leipzig im Winter 1990. Die Behauptung der Alternativlosigkeit der deutschen Einheit, von Währungsunion und Treuhand-Privatisierungen ruht auf Bildern wie diesen – Zeugnissen eines scheinbar eindeutigen Willens der DDR-Bevölkerung. 2014 nahm die hörenswerte Deutschlandfunk-Reihe „Deutsche Rufe“ das Banner unter die Lupe und fragte, warum es statt an den DDR-üblichen Holzlatten an Bambusstäben befestigt ist. War der Spruch eine westdeutsche Erfindung? Wurde er, qua diesem Banner, unter das demonstrierende Ost-Volk gebracht, wie später die „Wir sind das Volk“-Aufkleber der Bundes-CDU? Gegen eine Geschichte der Wiedervereinigung als glückliches Ende der 89-er Revolution war so ein Bambusstab im Feierjahr 2014 ein reichlich dünnes Argument.

Im Feierzyklus des letzten Jahres war das Gedenken schon wackeliger. Im Nachgang des lautstarken Rechtsdrifts ostdeutscher Unmutsäußerungen – und leider erst dann – ist ab 2014 ein längst überfälliger Prozess der Aufarbeitung der sozialen und biografischen Verheerungen und kulturellen Überschreibungen der Nachwendejahre in Gang gekommen, einschließlich der millionenfachen Abwanderung von Ost nach West, nicht trotz, sondern wegen der Währungsunion. 2019 haben sich zu den kritischen Stimmen einer neuen Generation jüngerer Historikerinnen, Journalistinnen und Aktivistinnen auch endlich die bislang fehlenden Perspektiven von Schwarzen Ostdeutschen, LGBTI, Vertragsarbeiterinnen, Feministinnen in der DDR gesellt.

Ausweitung des Erinnerns

Debattenbeiträge bislang wenig gehörter Protagonisten der 89-er Revolution fordern deren Erzählung als zwangsläufiger – und glücklicher – Werdegang von Mauerfall zu Wiedervereinigung heraus. Als der DDR-Oppositionelle und Verleger Klaus Wolfram die Entwicklung desselben Jahres in einer Rede in der Akademie der Künste als wenig feiernswerte Wandlung einer „ostdeutschen Generalaussprache“ in ein „westdeutsches Selbstgespräch“ über den Osten beschrieb, war die Aufregung groß. In Reaktionen auf seinen Beitrag wurden erneut bewährte Figuren der (Nach)Wende-Geschichtsschreibung bemüht. Doch gerade das Bild des „Jammerossis“ bedarf, um zu funktionieren, genau jene Geschichte einer so und nicht anders gewollten Einheit – und daher unverständlichen ostdeutschen Enttäuschung –, die Wolframs Einwurf hinterfragt. Auch die Demokratieunfähigkeit der Ostler lässt sich erst dann behaupten, wenn 89/90 als die radikale demokratische Selbstermächtigung, die dieses Ereignis eben auch war, aus dem kollektiven Erinnern verschwunden ist. Das ist die Geschichte der Runden Tische, Bürgerkomitees, der spontan gegründeten Räte in Städten, Betrieben, ja selbst in Gefängnissen; der hier entwickelten Vorschläge für eine ökologisch und sozial ausgerichtete Wirtschaft, der Experimente mit Eigentumsformen z.B. von Wohnraum oder Betrieben, oder einer Sozialcharta, die zunächst eine reformierte DDR, dann den kommenden gesamtdeutschen Sozialstaat gerechter, ökologischer und feministischer als den westdeutschen gestalten wollte. Eine Geschichte die, wenn nicht gänzlich vergessen, dann doch abgetan wird und wurde, als Fantastereien einer kleinen Minderheit bürgerbewegter Utopisten, die 1990 den vernünftigeren Wünschen der Mehrheit nach D-Mark und Einheit gewichen sind.

Genau diese Austragung der radikaldemokratischen, ökologischen, sozialen, feministischen, antimilitaristischen und, ja, auch anti-nationalistischen Aspekte der Revolution von 89/90 hat es ermöglicht, dass sich deren unvollendete Geschichte 2019 von einer rechten „Alternative für Deutschland“ als Wahlkampfmittel für eine rassistische, antifeministische und antidemokratische Agenda aneignen lassen hat. Ein alternatives Erinnern an 1989 könnte dieser rechten Besitznahme entgegentreten, indem es die Ereignisse als sehr konkrete emanzipatorische, ja linke, Erfahrung inhaltlich ausfüllt und auf Anschlüsse ins heute prüft. Warum hat es eine solche andere Erzählung, trotz der begrüßenswerten personellen Ausweitung des DDR-Erinnerns, bis heute so schwer?

Die Behauptung der genau so gewollten Vollendung der Revolution in der deutschen Einheit ruht auf den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990. 48 Prozent der Wählerinnen gaben an diesem Tag ihre Stimme der aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch zusammengeschlossenen Allianz für Deutschland, die sodann den von westdeutschen Konservativen und Marktliberalen bevorzugten raschen und möglichst bedingungslosen Anschluss der DDR an den Geltungsbereich des Grundgesetzes auf den Weg brachte. Die Wahlen werden bis heute als ein Referendum zur deutschen Einheit gewertet, in welchem sich, wie es oft heißt, „die Mehrheit“, oder die „DDR-Bevölkerung“ als Ganze von den Ideen der Bürgerbewegungen trennte, und für D-Mark und schnellstmögliche Einheit entschied. Nun sind 48% Allianz-Wählerinnen schon rechnerische keine Mehrheit gegenüber den 52% der Wählerinnen anderer Wahllisten. Es gibt aber auch gute Gründe, die Gleichsetzung „Wahlergebnis = Volksentscheid zur Einheit“ grundsätzlicher zu hinterfragen. Denn obwohl die Stimmenmehrheit der Allianz von der neuen DDR-Regierung als prinzipielle Einwilligung der Wähler in alle ihrer darauffolgenden Sachentscheidungen herangezogen wurde, ergaben zeitgleiche Meinungsumfragen zu konkreten Fragen, z.B. zu einer neuen DDR-Verfassung, durchaus deutlich abweichende Meinungsbilder. Von einer Einheit nach DDR-„Volkes Willen“ lässt sich auch insofern nicht sprechen, als die Bundesregierung in den Verhandlungen fast alle aus der Revolution geerbten sozialen und ökologischen Vorschläge dieser gewählten DDR-Regierung ablehnte. Deren „idealistischer Grundton“ – wie es in einer internen Notiz heißt – kam beim Kanzleramt nicht gut an.

Wachsende Unzufriedenheit

Noch interessanter wäre zu fragen, welche Vorstellungen eines kommenden vereinten Deutschlands sich überhaupt mit den Entscheidungen der Wählerinnen im März verbunden hatten. „Ein einiges Deutschland mit größter sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit. Ein einiges Deutschland, in dem Volkseigentum an Produktionsmitteln eine wirtschaftliche Größe im wahrsten Sinne des Wortes wird,“ forderten im Januar 1990 Belegschafter der Kokerei des VEB BV Lauchhammer. Eine rasch wachsende Unzufriedenheit der (post-)DDR-Bevölkerung lässt sich auch an der steigenden Anzahl von Streiks und Protesten im Frühjahr und Sommer 1990 ablesen, die sich zu einer massiven Bewegung ausweiten sollte.

Dass diese massiven und fortdauernden demokratischen Proteste bis heute weder wirklich Beachtung gefunden haben, noch an dem Bild der „demokratieunfähigen Ostdeutschen“ kratzen konnten, ist ebenfalls eine Folge der schon erwähnten zirkulären Geschichtsschreibung: Wer behauptet, das Aufbegehren von 1989/90 habe – die kleine Gruppe bürgerbewegter Utopisten ausgenommen – allein auf ein Erlangen von Reisefreiheit, Demokratie und Meinungsfreiheit bestehender westlicher Ausprägung und eine Teilhabe am bundesdeutschen Konsum und Wohlstand abgezielt, wird in den Protesten der ostdeutschen Arbeiterinnen keine Fortsetzung eines revolutionären Impulses erkennen können. Die Proteste sind entsprechend als Reaktionen auf einen so bedauerlichen wie unvermeidlichen Rückbau überflüssiger Arbeitsplätze im Osten abgetan worden. Die wenigen verfügbaren zeitgenössischen und aktuellen Befragungen von Beteiligten zeigen aber, dass die betrieblichen Proteste der 90er Jahre auch immer von einem tief empfundenen, im Herbst und Winter 89/90 erlernten Anspruch auf betriebliche Mitbestimmung angetrieben wurden. Mit ihrer Forderung nach Selbstbestimmung hatte die Handvoll Bürgerbewegter eine neues demokratisches Selbstverständnis losgetreten, dessen Nachwirken in alle Bevölkerungsschichten hinein sie selbst weder kontrollieren, noch in voller Konsequenz (an)erkennen konnte. Die Inhalte, die Sprache, die Ikonographie der betrieblichen Protestbewegung der frühen 90er legen den Schluss nahe, dass die revolutionäre Anmaßung des Herbstes 89 – sich endlich selbst vertreten zu wollen – tatsächlich erst 1993 mit den Kämpfen in Bischofferode und anderswo niedergeschlagen wurden.

Die Bürgerbewegten der ersten Stunde, darunter Klaus Wolfram und Bärbel Bohley, waren in Bischofferode noch einmal dabei. Auch ihr Kampf hatte im Oktober 1990 nicht aufgehört. Stellvertretend für viele sei hier die Geschichte von Ingrid Köppe erzählt, einer Kollegin Klaus Wolframs vom Runden Tisch, später eine von acht Vertreterinnen der Bürgerbewegungen im ersten gesamtdeutschen Bundestag. Köppe machte sich dort für Abschaffung der bundesdeutschen Nachrichtendienste stark und stimmte gegen die Verschärfung des Asylrechts. Unzufrieden mit den Kürzungen eines von ihr verfassten Untersuchungsberichts zur SED-Devisenbeschaffung, veröffentlichte sie einen Bericht zu westdeutschen Verwicklungen. Als der 1994, trotz seiner Einstufung als geheim, öffentlich wurde, leitete man ein Verfahren gegen sie ein. Köppe lehnte in Folge das Bundesverdienstkreuz ab und zog sich aus der öffentlichen Debatte zurück. Ingrid Köppe begann ihre Aufarbeitung der Aufarbeitung am eigenen Leibe zweieinhalb Jahrzehnte zu früh. Sind wir 2020 so weit?

Klaus Wolfram: 89er Revolutionär und Verleger

Ich freue mich wahnsinnig, dass dieser unglaublich kluge und wichtige Mensch, Klaus Wolfram, nun endlich ein erstes wichtiges Mal, die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient – hier in einem Gespräch mit Mark Siemons in der FAS.* Ich hatte 2010 und letztes Jahr zusammen mit Jan Wenzel, die tolle Gelegenheit, Wolfram ein zweites Mal zu interviewen

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– wir haben einen kurzen Auszug daraus in “Das Jahr 1990 freilegen” veröffentlicht.

Wolfram war  ein klassischer Dissident, aktiv in einer kritischen marxistischen Gruppe und bis zu seinem Ausschluss Mitglied der SED; 1989 Koordinator der Programmkommission des Neuen Forum und Mitglied im Landessprecherrat des des Neuen Forums. Er gründete Ende 1989 den Basisdruck Verlag mit – der u.a. die neugegründete Wochenzeitung die andere herausgab. Eine Kurzbio mit Links zu Wolfram findet sich hier.

Ich hatte bereits 2010 das ungeheure Vergnügen, Wolfram im Zuge meiner Recherchen zum Verfassungsentwurf des Runden Tischs (> siehe z.B. hier), damals noch in den alten Verlagsräumen in der Schliemannstraße im Prenzlauerberg interviewen zu dürfen. Wolfram war nicht nur maßgeblich an der Formulierung des Verfassungsentwurfs beteiligt gewesen, sondern lancierte mit der Veröffentlichung des Entwurfs bei Basisdruck auch die – letzendlich vergebliche – Kampagne und Unterschriftensammlung um ihn, wie geplant zur Diskussion und Volksentscheid zu stellen. (Mehr dazu hier.)

Im Sommer 2019 war Klaus Wolfram im Vorlauf unseres Treffens zunächst sehr zögerlich gewesen, einem Interview zuzusagen; wie andere aus den linken bürgerbewegten Kreisen der DDR ist er nicht nur sehr zurückhaltend, sondern, so schien mir, auch aufgrund schlechter Erfahrung sehr vorsichtig damit, sich selbst in eine Geschichtsschreibung und eine Gedenkkultur der für viele lebensprägenden Erfahrung 1989/90 einzutragen, der ebendiese Erfahrung immer wieder einhegt, enteignet oder ihr gar mit unverständigem Misstrauen begegnet. Ich würde mich freuen, wenn Wolframs Stimme, solange wir Stimmen wie seine noch haben, beitragen könnte, einen kritischen Diskurs aus ostlinker/ostintellektueller Perspektive Raum zu geben, der uns seit 30 Jahren bitter fehlt und der jetzt nicht nur von jener jungen Generation Ostlinker getragen werden kann und sollte, die diesen Fragen – gottseidank – endlich auch für die größere Öffentlichkeit Gehör verschaffen.

*Wolfram hatte mit seiner Rede an der Akademie der Künste zum Jahrestag des Mauerfalls für einen Eklat gesorgt, der die Anwesenden, offensichlich so automatisch wie säuberlich in begeisterte Ostdeutsche und verständnislose Westdeutsche teilte. Die Rede kann hier nachgelesen werden: https://hoywoy-stories.de/unsere-kuenstlerischen-eliten-eklat-rede-aus-berlin/

Trau keinem über 45.

Gespräch zu einem Interview mit Wolfgang Engler; Auszüge aus einer Diskussion auf Facebook, 17. Juni 2019:

Elske Rosenfeld: Wolfgang Engler in der LVZ vom 1.6.2019: “Ich hatte eine ganze Reihe von Gesprächen, in Eisenhüttenstadt, Cottbus, Magdeburg,

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wo etliche Leute gesagt haben: ‘Lange haben wir unserer Enttäuschung zurückgehalten, diese große Kränkung in den frühen 90ern, dass wir zwar politische Rechte erobert haben, aber in unserem elementaren Lebensverhältnissen einen Bestimmungsverlust durch den Verlust der Arbeit erlitten haben. Lange haben wir unseren Protest erst der PDS, dann der Linkspartei anvertraut, aber wirklich durchgedrungen ist das erst, als wir einen Schritt weiter gegangen sind.’
Als sie rechts gewählt haben.
Ja. Mit einem Mal kommen die Politiker, kommen Journalisten in die ostdeutsche Provinz. Wissenschaftler kommen in Gruppen, um die Mentalität zu erforschen. Und da sagen die Menschen: ‘Jetzt haben wir die Aufmerksamkeit, die uns lange versagt geblieben ist, jetzt stehen wir im Mittelpunkt des Interesses, jetzt kommen die Probleme auf die Tagesordnung. Das war ungefähr das, was wir wollten.“ Rache ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber es gibt so einen Selbstbestätigungseffekt.’”

BBB: “So unerfreulich die Anlässe sein mögen mit NSU-Komplex und Pegida und dem Aufschwung der AfD, haben sie doch eine Repolitisierung der Gesamtgesellschaft ausgelöst.” Wie bitte – unerfreulich? Nur mal die Fakten Herr Engler: Der Nationalsozialistische Untergrund ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) und 15 Raubüberfälle. (Quelle: Wikipedia) Vielleicht ist ja dies das eigentliche Problem solche “Anlässe” als “unerfreulich” zu betiteln.

Elske Rosenfeld: Ja, man würde sich eine angemessenere Wortwahl wünschen.

S: Sehr schwieriges Interview. Den “NSU” als unerfreulich zu bezeichnen, nachdem kurz zuvor Walter Lübcke von einem rechtsradikalen Täter, der sich offenbar in den neunziger Jahren radikalisiert hat, ermordet wurde, ist total daneben. Das ist genau die Verharmlosung des Rechtsextremismus, die ich seit Jahrzehnten im Osten erlebe. In den neunziger Jahren von Sozialarbeitern, Lehrern, Politikern. In Brandenburg. Ich glaube auch nicht an die These der Repolitisierung. Die AfD appelliert an niedere Instinkte, Hass, Rache, Zorn. Da ist nichts konstruktiv.

Elske Rosenfeld: Das stimmt absolut – siehe oben. Ich fand auch schon einige von Englers Aussagen in dem Interview mit Jana Hensel vor paar Monaten schwierig. Ich fand nicht den Artikel an sich, sondern das Zitat, das ich oben gepostet habe, dennoch wichtig. Ich glaube, es bringt einiges auf den Punkt. Ich finde es frappierend, wie wenig die großen Protestwellen im Osten in den 90ern und 2000ern (die interessieren mich persönlich mehr als das PDS-wählen!) ins öffentliche Bewusstsein, auch in ein linkes Bewusstsein vorgedrungen sind. Da war der Protest nämlich ABSOLUT konstruktiv und richtete sich auch an die absolut richtigen Adressaten. Nur wurde das weder wahrgenommen, noch wertgeschätzt/unterstützt, noch hatte es irgendwelche nennenswerten politischen Konsequenzen. Ich bin angesichts dieser Ost-Protestgeschichte ab 1989 ehrlich gesagt fassungslos, wenn der Rechtsruck im Osten jedes Mal wieder mit einem demokratischen Defizit / Unvermögen /Desinteresse der Ostdeutschen begründet wird. Ich bin überzeugt, dass man den Rechtsruck im Osten nicht verstehen wird, wenn man sich nicht diese Aufmerksamkeitsökonomien des Mainstreams aber und vor allem auch innerhalb der deutschen Linken anschaut (die den Mainstream an der Stelle auf frappierende Weise 1:1 kopieren, siehe z.B. Zonengabi) – und das pure Desinteresse, dass hier 30 Jahre lange gegenüber Ost-“Befindlichkeiten” gezeigt wurde, und das bis heute noch dazu absolut salonfähig ist. Das muss man unbedingt besprechen (und ändern). Das ist logischerweise nicht über die AfD, sondern nur gegen sie zu machen. Aber in dieser Gegnerschaft könnten sich schon Energien freisetzen, die der Debatte bislang leider fehlten.

Dass Ostbefindlichkeiten erst mit dem Aufstieg von Pegida und AfD Aufmerksamkeit bekommen (wie in dem Zitat beschrieben) ist ja auch kein Verdienst der AfD, sondern ein Zeichen für das Versagen eben dieser linken und medialen Aufmerksamkeitsökonomien. Das finde ich sehr, sehr bitter.

PS: Danke, S., für die Einladung zu dieser Präzisierung meines postings. Ich hatte eh ein komisches Gefühl, den link zu dem Engler unkommentiert zu posten. Nun ist der Kommentar dazu endlich auch da.

S: Danke für die Präzisierung. Es gab Proteste. Aber bis auf Bischofferode ist fast alles vergessen. Schaffte es auch nie in die Tagesschau, wie es Ost Themen kaum in die großen Medien schafften. Zur Wahrheit gehört aber auch: wenn man versucht hat, vor Ort (Eisenhüttenstadt) über die Erlebnisse und Erfahrungen wurde und wird man abgeblockt. Diese Generation 45 plus holt man jetzt auch nicht mit Quoten oder historische Aufarbeitung zurück. Das muss man für die Jungen machen.

Elske Rosenfeld: Ich habe schon Leute aus der älteren Generation – z.b. in Bischofferode – getroffen, die einen großen Redebedarf zu diesen Dingen haben. Auch zur Treuhand scheint mit der Redebedarf sehr groß. Ich glaube nicht, dass man alle Menschen aus dieser Generation abschreiben kann, soll, muss. Vor allem, weil es ja bei weitem nicht nur AfD-Wählerinnen unter ihnen gibt, sondern auch andere Leute, die diesen Frust und diese Enttäuschungen mit sich rum tragen und mit sich selber ausmachen. Die im übrigen oft auch in der Umbruchsphase und während der Proteste Großes und Wichtiges geleistet haben, was überhaupt nicht gewürdigt wird. Ich finde es essentiell, dass man diese Dinge mit diesen Betroffenen/Zeitzeugen bespricht und aufarbeitet. Anders geht es ja nicht. Die Jungen haben dabei eine Rolle zu spielen, ja, und sie werden diejenigen sein, die neue emanzipatorische Arbeitsweisen aus diesen Erkenntnissen stricken können. Die Protestwellen der 90er sind ja auch ein riesiger Erfahrungsschatz für linke Politiken, der aktuell einfach brach liegt.

Ps: 45 plus? Das sind wir doch selber schon (fast?), liebe S.

S: Genau, 45, so alt werde ich auch bald sein. Und deshalb weiß ich ja, wovon ich rede. Ich bin mit meinem Buch sehr viel unterwegs gewesen, lange bevor es AfD und Co. im Osten gab. Lange bevor sich die breite Masse für die Nachwendezeit interessierte. Die depressive Stimmung war schon damals da. Nicht überall, nicht bei allen. Es gibt ja auch wahnsinnig erfolgreiche Ostdeutsche, die die Chancen genutzt haben. Diesen harten resignativen Kern, der sich in denen neunziger Jahren entwickelte und der jetzt AfD wählt, den erreicht man nicht. Das meinte ich. Und ganz ehrlich: Denkt ihr wirklich, wenn Petra Köpping noch länger durch die Lande zieht mit ihrem Opfer-Ansatz, dann wählen mehr Leute SPD?

Elske Rosenfeld: Die Resignation hat halt Gründe. Und die gilt es aufzuarbeiten. Ich finde das an sich wichtig, ohne schon zu wissen, welche politischen Effekte das zeitigen kann und ob dadurch ein oder 200.000 AfD-Wähler zurückgeholt werden können oder nicht. Eben auch, weil da auch eine emanzipatorische Geschichte und Lebensleistungen dahinter stecken, die uns sonst verloren gehen. Ich habe das Zitat oben aber auch gepostet, weil ich durchaus der Meinung bin, dass die Zuwendung zur AfD bei einem Teil der Leute Gründe hat, die politisch verhandelt werden müssen, auch weil sie sich sonst fortsetzen. Wenn eine Person, wie die oben zitierte, ihren politischen Werdegang von links nach rechts so deutlich begründet, ist das doch keine Resignation sondern eine explizite Aufforderung zur Auseinandersetzung. Mich wundert es ein bisschen, dass du als Journalistin, und Protagonistin der Aufarbeitungszene, das so rigoros ablehnst.

Wenn jetzt eine jüngere Generation Ostdeutscher, die die Sprache und Mittel hat sich und ostdeutschen Themen medial Präsenz zu verschaffen, die ältere Generation, die diese ganzen Kämpfe ausgestanden und Abwertungserfahrungen gemacht hat, abschreibt, oder – wie andernorts gelesen – als nicht zu verstehen exotisiert, wiederholen wir jetzt intergenerationell genau den West>Ost-Move, der die Leute so frustriert hat, und ja, teilweise auch den Rechten in die Arme getrieben hat. Ich fände das wirklich problematisch, und ich glaube nicht, dass wir den Osten irgendwie auch nur einen Zentimeter weiter bringen, wenn wir das nicht (neben den vielen anderen Dingen, die zu tun wären) auch tun. Zwischen Leuten, die resigniert haben und Leuten die “die Chancen genutzt haben” gibt es ja dann auch noch ein ziemlich weites Feld an Nach-Wende Lebenserfahrungen.

Wir treffen auf die Resignation, wenn sie sich verfestigt hat, und kennen in der Regel ihre Vorgeschichte nicht. Ich würde hier dazu tendieren weiterzufragen, auch wenn uns sicher oft der Tonfall nicht gefällt. Der Jammerossi ist auch gemacht worden.

1989/90 ist noch nicht vorüber

Diesen Text habe ich für das von mir mitkuratierte Festival “Palast der Republik” geschrieben, das vom 8.3.-10.3.2019 am Haus der Berliner Festspiele stattfand. Der Tagesspiegel, der diesen Text angefragt hatte, hat ihn auf so aufschlussreiche Weise gekürzt, dass ich die Kürzungen hier kursiv gesetzt habe. Sie erzählen auch eine Geschichte.

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“Die Revolution von 1989/90 ist in den letzten 30 Jahren zu einer Fußnote von Maueröffnung und Wiedervereinigung geworden. Dabei hat diese Revolution als etwas anderes begonnen und ist weder vollendet, noch abgeschlossen.

Als die Mauer geöffnet wurde, trank Bärbel Bohley einen Cognac und ging schlafen. Sie hatte am Vormittag mit anderen Mitstreitern die erste Pressekonferenz des Neuen Forums abgehalten. Vielen von ihnen erscheint die Maueröffnung als ein Versuch der SED, das aufgebrachte Volk zu befrieden. Zwei Tage später mahnt das Neue Forum: „Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, lasst euch jetzt nicht ruhigstellen.“

Diese politische Revolution hatte ab Oktober 1989 als eine rasant anwachsende Massenbewegung Gestalt angenommen. Diese war angetreten, mit den im Umfeld dissidentischer Kreise entstehenden Bürgerbewegungen SED und Regierung den politischen Alleinvertretungsanspruch streitig zu machen. In einem Prozess der radikalen Selbstermächtigung hatten die Menschen auf den Straßen, in Versammlungen, auf der Arbeit, in den Schulen begonnen, die Gegenwart und Zukunft des Landes zu besprechen. Die Bürgerbewegungen boten der Bevölkerung dafür eine Plattform. Für dieses von den Oberen gefürchtete gemeinsame Projekt sollte die abrupte Grenzöffnung tatsächlich zu einer Art Anfang des Endes werden. Viele Menschen begannen sich jetzt anderen politischen Angeboten zuzuwenden, bzw. Angeboten, die schon nicht mehr politisch waren. Aber damit war noch nichts vorüber.

Zwar müssen sich die Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig montags nun, weil sie – aus Protest gegen die nationale Wende – demonstrativ entgegen der Hauptlaufrichtung um den Leipziger Ring laufen, als „rote Socken“ beschimpfen lassen. Aber noch sprechen sich, laut einer Spiegel-Umfrage vom Dezember 1989, 71% der Ostdeutschen für einen Fortbestand der DDR aus. Der von DDR-Intellektuellen initiierte „Aufruf für unser Land“ wird von 1,17 Millionen Bürgerinnen unterschrieben.

Der so folgenreiche Wandel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ wurde nicht auf der Straße und nicht im Osten, sondern am 10. November in Hamburg von den Chefredakteuren von Bild und Welt vollzogen. Die Bundes-CDU machte anschließend im Geleit dieser Kampagne wirkungsvoll Wahlkampf. „Selbstbestimmung“, so Peter Radunski, Chef der CDU-Öffentlichkeitsarbeit, kann „nicht das sein, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann.“ Die Kohlregierung verhandelte die Konditionen einer raschen Einheit sowieso lieber mit Partnern in der SED-Regierung, als mit den bürgerbewegten Neulingen. Die Bürgerinnen organisierten, all dessen ungeachtet, weiter die Demokratisierung der Institutionen, Medien und Betriebe an Runden Tischen, in Bürgerkomitees und anderen neu geschaffenen Formaten. Die Revolution, als ein Projekt der Massen und von unten, ging weiter und schuf sich ihre Wege.

Auch mit dem durchschlagenden Erfolg der Allianz für Deutschland bei den Volkskammerwahlen war diese Revolution nicht vorüber. Das Wahlergebnis vom 18. März wird heute gern als Blankoscheck für genau jenen Weg zur Einheit interpretiert, den diese dann unter westdeutscher Federführung einschlug. Parlamentarische Entscheidungen und Bevölkerungsmeinung gingen in Sachfragen, z.B. zur Notwendigkeit einer Verfassungsdiskussion, jedoch teils nachweislich weit auseinander. Auch die Verhandlungen zur deutschen Einheit blieben bis zu ihrem Ende von dem hartnäckigen Bemühen ostdeutscher Akteure geprägt, wenigstens einige der u.a. an den Runden Tischen entwickelten ökologischen und basisdemokratischen Vorschläge und soziale Aspekte der DDR in ein vereintes Deutschland einzubringen. Der Wunsch nach Eigenständigkeit der neuen DDR-Regierung, ihr „idealistischer Grundton“ – wie es in einer Notiz des Bundeskanzleramts heißt -, ihr Streben nach einer „gerechten internationalen Wirtschaftsordnung“ stießen bei der Bundesregierung weder auf Gegenliebe noch auf nennenswerten Verhandlungsspielraum.

Während die Volkskammer am 20. September 1990 im Palast der Republik den Einigungsvertrag annahm, versammelten sich draußen Bürgerrechtler an einem Runden Tisch, bestehend aus einer Kabeltrommel der von Entlassungen bedrohten Kabelwerke Oberschöneweide.* Am 3. Oktober luden bürgerbewegte Gruppen zum Protest gegen den neuen Visumszwang an die polnische Grenze. Am 4. November forderte ein „Runder Tisch von Unten“, die politische Selbstermächtigung der Bürgerinnen von 1989 nun auch als eine soziale und wirtschaftliche umzusetzen. Als Ende November die Polizei in der Mainzer Straße einrückte, stellten sich Bürgerrechtler, darunter Bärbel Bohley, in den Weg der Wasserwerfer. Aber selbst mit dem politischen Kapital ihrer Namen konnten sie die Räumung der besetzten Häuser nicht verhindern.

Dennoch wirkte der Impuls der revolutionären Selbstermächtigung noch lange fort, nachdem die Politik den demokratischen Gestaltunganspruch der Ostdeutschen mit dem Treuhandgewordenen Credo des „wirtschaftlichen Sachzwangs“ für obsolet erklärt hatte. Der Wunsch über die eigene Zukunft selbst zu entscheiden manifestierte sich in den über 1000 Anti-Treuhand-Protesten, Streiks und Betriebsbesetzungen der frühen 1990er Jahre, ebenso wie in den 1991 zunächst gegen Betriebsschließungen und 2004 gegen die Hartz-IV-Gesetze wieder aufgenommenen ostdeutschen Montagsdemos.

Nachdem die Geschichte von 1989/90 aber einmal als Erfolgsstory von Mauerfall und Wiedervereinigung festgeschrieben worden war, waren diese Momente nicht mehr als Fortsetzung einer 1989 begonnenen emanzipativen Bewegung zu erkennen. Aus dem kollektiven Bewusstsein Ost wie West sind sie seither so gründlich verschwunden, dass der Rechtsruck Ostdeutschlands heute oft ausgerechnet mit einer „Demokratieunfähigkeit“ der Ostdeutschen erklärt wird.

Für die Erfahrung der Selbstermächtigung, die Erinnerung an das Uneingelöste der Revolution von 1989/90, fehlt uns heute die Sprache. Wir, die diese Revolution erlebt und mit getragen haben, nennen unsere damaligen Vorstellungen „naiv“, jede Hoffnung, etwas anderes als die Geschichte, wie sie dann eintrat und gemacht wurde, sei möglich gewesen, scheint uns „utopisch“. Als Künstlerin suche ich diese, auch meine Erfahrung von 1989 jenseits etablierter Erzählmuster z.B. in Dokumenten aus jener Zeit, die ihre eigene Sprachlichkeit in sich tragen. Ich suche sie auch in den Körpern der Menschen, in denen die Erfahrung des Herbstes 1989 unter den auf sie hinaufgeschichteten Erzählungen archiviert ist: als eine freudige Erregung, ein Aufleuchten der Augen, das sich beim Erinnern Bahn bricht. Auch wenn unsere Begriffe des politisch Möglichen keine Worte für sie bereithalten, wissen unsere Körper, dass eine andere mögliche Zukunft auf den Straßen, in den Versammlungen, an den Runden Tischen 1989/90 bereits ein Stück Realität angenommen hatte.

Mit dem Festival „Palast der Republik“, bei dem ich als Kuratorin mitwirke, möchten die Berliner Festspiele nun eine Revision und Ergänzung des Erzählens über 1989/90 anregen. Wir wollen mit damals Beteiligten über ihre Visionen eines gemeinsam organisierten Zusammenlebens sprechen. Warum und wie fokussierten diese genau jene Fragen – der Ökologie, der radikalen Demokratisierung, der sozialen und globalen Gerechtigkeit –, welche die ab 1990 neu formierte Gesellschaft heute am deutlichsten herausfordern? Wir wollen, gemeinsam mit internationalen Künstlern, Theoretikerinnen, Aktivisten einen politischen Erfahrungsschatz heben, der in der Erzählung von Mauerfall und Wiedervereinigung verschwindet – den wir 2019 aber gut brauchen können. Die Revolution von 1989/90 hat gerade erst begonnen.”

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*Nachtrag nach Veröffentlichung: Judith Braband, die mir diese wunderbare Geschichte erzählt hat, konnte den Runden Tisch vor der Volkskammer inzwischen anhand ihrer Unterlagen noch genauer – und anders – datieren: Er fand am 21.6.1990 statt.

“Das Verhängnis einer unvollendeten Revolution”

Was mich an dem Titel des Artikels von Frank Richter zunächst hat aufmerken und hoffen lassen hat, ist dass mit der Anerkennung der Nicht-Vollendung (und damit, diese als Verhängnis zu beschreiben) im Prinzip schon ein erster Schritt getan wäre. Zu sagen: es gibt aus dieser Revolution etwas Uneingelöstes, das zu besprechen wäre.

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Ich glaube durchaus, dass sich aus einem wirklichen Zurückgehen zu 1989/90, und einem Abklopfen dessen, was daraus (seltsamerweise?) immer noch relevant scheint, schon recht konkrete politische Schlüsse ziehen lassen könnten, die uns ein Stück weiter bringen würden. Und dass gleichzeitig ein solches Zurückgehen und Ernstnehmen dieser Geschichte selbst bereits jene Wirkung hätte, nach der der Autor, glaube ich, sucht, nämlich des gehört und gesehen Werdens. Insofern ist es schade, dass der Artikel (das Buch?) dann den Gedanken selbst nicht wirklich ernst nimmt, sondern stattdessen die Mythologisierung der Demokratie-Unfähigkeit des (post-)DDR-Bürgers fröhlich weiter voranschreibt. Eine Revolution sind die Ereignisse von 1989 geworden, als die “Minderheitenposition” der Bürgerbewegten von der nötigen kritischen Masse an Menschen mitgetragen bzw. angeeignet wurde. Eine Revolution wird nicht – wie es in Richters Text heißt – von “Minderheiten vollzogen” (dann wäre sie ein Putsch, ein Coup d’etat gewesen). Warum sich die Mehrheiten nach dem 9. November wieder von den Minderheiten lösten, die die Revolution als eine wirkliche politische Ermächtigung zu gestalten angetreten waren, wäre die interessantere Frage, ebenso wie die, ob und wie dieser Impuls der Revolution möglicherweise auch dort noch weiterwirkte, wo parlamentarische Mehrheitsverhältnisse dieses Weiterwirken unsichtbar machten. Vielleicht waren mit den Bürgerbewegungen nicht gleich auch alle Ideen und Impulse der Revolution abgewählt, möglicherweise lebten sie nur in Formen fort, die sich mit den Mitteln der repräsentativen Demokratie nicht abbilden ließen. Ich denke z.B. an das Fortdauern einer weit jenseits der Minderheit der Bürgerbewegungen 1989 gelebten revolutionären Anmaßung, die Formen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens selbst zu bestimmen – die z.B. in den betrieblichen Kämpfen der frühen 1990er durchaus auch immer wieder gegen die neue Ideologie der vermeintlichen wirtschaftlichen Alternativlosigkeit und der Allmacht und Weisheit des Marktes behauptet wurde. Auch diese Kämpfe waren im Osten durchaus keine Minderheitenphänomene, sie wurden vom medialen und gesellschaftlichen Mainstream nur einfach nicht oder kaum – vor allem nicht als Nachwirkungen der Revolution –wahrgenommen. Ich denke, an diesen Stellen könnte eine “Aufarbeitung” der (Nach)wendezeit produktiv werden. In Form einer Politisierung der Geschichtsschreibung: der Anwendung der revolutionären Anmaßung von 1989 auf das Heute.


Ein Kommentar zu Auszügen aus Frank Richters Buch “Hört endlich zu!”, erschienen am 9. März 2018 auf Krautreporter.de.

Causa Holm, continued

Kommentar zu einem Artikel von Robert Ide, 4.12.17

Herr Ide, Ihre Selbstgerechtigkeit ist so beeindruckend wie erschütternd.
Der Tagesspiegel und Sie als Autor wurden nicht angegriffen, weil Sie “zuerst und intensiv die Frage thematisiert haben, ob Holm als Staatssekretär glaubwürdig ist”.

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Vielmehr wurden konkrete Formulierungen hinterfragt, die Leser*innen unvereinbar mit einem Mindestmaß an journalistischer Ethik erschienen:
Bereits in Ihrem ersten Artikel zum Thema vom 13.12.16 setzten Sie die Umsetzung des von einer demokratisch gewählten Berliner Landesregierung geschaffenen Mittels des Zweckentfremdungsverbots mit Stasimethoden gleich. Zitat: “Das Vorkaufsrecht auf Wohnhäuser, die Regulierung von Sanierungsumfang und Miethöhe in Milieuschutzgebieten sowie die Gesetzgebung gegen die Zweckentfremdung. Wenn nur genügend offizielle und inoffizielle Mitarbeiter zum verschärften Überwachen und Strafen bereit stehen, könnte so mancher in der Ferienwohnungsindustrie bald aufheulen.” http://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/berlins-neuer-staatssekretaer-und-die-stasi-was-hat-andrej-holm-getan-und-was-hat-er-dazu-gesagt/14969070.html

Diese implizierte Gleichsetzung der Umsetzung eines Gesetzes mit Stasimethoden offenbart nicht nur ein recht fragwürdiges Demokratieverständnis, sondern verharmlost zudem das tatsächliche Wirken der Stasi und dessen verheerende Folgen.

Eine in Ihrem Artikel gepriesene Einsicht in eigene Fehler würde Ihnen, nicht zu letzt angesichts dieses journalistischen Fehltritts, selbst gut zu Gesicht stehen.

Auch Ihre im selben Artikel geäußerte Einschätzung, der staatstragende Antikapitalismus der DDR fände seine Fortsetzung im heutigen politischen Engagement der Mieterinitiativen beleidigt nicht nur die vielen, meist unbezahlt im Interesse der mehrheitlich zur Miete wohnenden Bewohner*innen Berlins Engagierten. Sie verunglimpft auch jene Dissident*innen, Umweltschützer- und Friedens- und Frauenbewegten, die bis 1989 unter Gefahr für Leib und Seele Widerstand gegen das SED-Regime leisteten und sich für einen Demokratisierung des DDR-Sozialismus einsetzten, nur um nach der Revolution wieder auf der falschen Seite der Macht zu landen. Nämlich in der Regel nicht in den Schreibstuben der etablierten Zeitungen.

Mit seinem Engagement beim aus dem im DDR-Widerstand entstandenen telegraph (ehemals Umweltblätter/ http://umwelt-bibliothek.de/umweltblaetter.html) suchte sich Holm nach 1990 ein Betätigungsfeld, in dem er sich durchaus auf kritische Fragen zu seiner Biographie einstellen musste. Andere haben es sich einfacher gemacht und sind im Dunstkreis der post-SED verblieben, wo es sich schon bald wieder Karriere machen ließ.

Diese Art historisch informierter Differenzierung und Kontextualisierung würde man sich von qualitätsvollem Journalismus wünschen.

In diesem Sinne sei allen, die sich für die tatsächlichen Fakten der “Causa Holm” interessieren, das auf der Seite “Wir bleiben alle” veröffentlichte FAQ empfohlen, das einigen der sich in der Berichterstattung des vergangenen Winters verselbstständigen Formulierungen und Darstellungen anhand der der vorliegenden Originaldokumente, sowie rechtlichen Einschätzungen auf den Zahn fühlt, darunter den Fragen:

– War Andrej Holm hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter?

– Hat Holm falsche Angaben gemacht?

– Hat Andrej Holm seinen Status als Offiziersschüler beim MfS im Fragebogen der HU im Jahr 2005 verschleiert?

Das FAQ findet sich unter:

http://wirbleibenalle.org/?cat=915

[Dieser Kommentar wurde am 4.12.2017 als Reaktion auf einen Artikel im Tagesspiegel geschrieben und dort in leicht geänderter Form in den Kommentarspalten geposted.]

“Der Fall Monika Haeger”

In der RBB Mediathek kann man momentan diese sensible und umsichtige Dokumentation von Peter Wensierski mit und zu seinem Interview mit der IMS Monika Haeger von 1990 anschauen. Mir scheint, dass es für diese Art Gespräche 1990 ein kurzes Zeitfenster gab, dass sich dann rasch wieder schloss, auch weil sich die Fronten verhärteten und die Narrative konsolidierten. Vielleicht ist die Ausstrahlung 27 Jahre später auch ein Zeichen dafür, dass da wieder etwas in Bewegung geraten (sein) könnte.