1989/90 ist noch nicht vorüber

Diesen Text habe ich für das von mir mitkuratierte Festival “Palast der Republik” geschrieben, das vom 8.3.-10.3.2019 am Haus der Berliner Festspiele stattfand. Der Tagesspiegel, der diesen Text angefragt hatte, hat ihn auf so aufschlussreiche Weise gekürzt, dass ich die Kürzungen hier kursiv gesetzt habe. Sie erzählen auch eine Geschichte.

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“Die Revolution von 1989/90 ist in den letzten 30 Jahren zu einer Fußnote von Maueröffnung und Wiedervereinigung geworden. Dabei hat diese Revolution als etwas anderes begonnen und ist weder vollendet, noch abgeschlossen.

Als die Mauer geöffnet wurde, trank Bärbel Bohley einen Cognac und ging schlafen. Sie hatte am Vormittag mit anderen Mitstreitern die erste Pressekonferenz des Neuen Forums abgehalten. Vielen von ihnen erscheint die Maueröffnung als ein Versuch der SED, das aufgebrachte Volk zu befrieden. Zwei Tage später mahnt das Neue Forum: „Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, lasst euch jetzt nicht ruhigstellen.“

Diese politische Revolution hatte ab Oktober 1989 als eine rasant anwachsende Massenbewegung Gestalt angenommen. Diese war angetreten, mit den im Umfeld dissidentischer Kreise entstehenden Bürgerbewegungen SED und Regierung den politischen Alleinvertretungsanspruch streitig zu machen. In einem Prozess der radikalen Selbstermächtigung hatten die Menschen auf den Straßen, in Versammlungen, auf der Arbeit, in den Schulen begonnen, die Gegenwart und Zukunft des Landes zu besprechen. Die Bürgerbewegungen boten der Bevölkerung dafür eine Plattform. Für dieses von den Oberen gefürchtete gemeinsame Projekt sollte die abrupte Grenzöffnung tatsächlich zu einer Art Anfang des Endes werden. Viele Menschen begannen sich jetzt anderen politischen Angeboten zuzuwenden, bzw. Angeboten, die schon nicht mehr politisch waren. Aber damit war noch nichts vorüber.

Zwar müssen sich die Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig montags nun, weil sie – aus Protest gegen die nationale Wende – demonstrativ entgegen der Hauptlaufrichtung um den Leipziger Ring laufen, als „rote Socken“ beschimpfen lassen. Aber noch sprechen sich, laut einer Spiegel-Umfrage vom Dezember 1989, 71% der Ostdeutschen für einen Fortbestand der DDR aus. Der von DDR-Intellektuellen initiierte „Aufruf für unser Land“ wird von 1,17 Millionen Bürgerinnen unterschrieben.

Der so folgenreiche Wandel von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ wurde nicht auf der Straße und nicht im Osten, sondern am 10. November in Hamburg von den Chefredakteuren von Bild und Welt vollzogen. Die Bundes-CDU machte anschließend im Geleit dieser Kampagne wirkungsvoll Wahlkampf. „Selbstbestimmung“, so Peter Radunski, Chef der CDU-Öffentlichkeitsarbeit, kann „nicht das sein, womit das Volk zufrieden gestellt werden kann.“ Die Kohlregierung verhandelte die Konditionen einer raschen Einheit sowieso lieber mit Partnern in der SED-Regierung, als mit den bürgerbewegten Neulingen. Die Bürgerinnen organisierten, all dessen ungeachtet, weiter die Demokratisierung der Institutionen, Medien und Betriebe an Runden Tischen, in Bürgerkomitees und anderen neu geschaffenen Formaten. Die Revolution, als ein Projekt der Massen und von unten, ging weiter und schuf sich ihre Wege.

Auch mit dem durchschlagenden Erfolg der Allianz für Deutschland bei den Volkskammerwahlen war diese Revolution nicht vorüber. Das Wahlergebnis vom 18. März wird heute gern als Blankoscheck für genau jenen Weg zur Einheit interpretiert, den diese dann unter westdeutscher Federführung einschlug. Parlamentarische Entscheidungen und Bevölkerungsmeinung gingen in Sachfragen, z.B. zur Notwendigkeit einer Verfassungsdiskussion, jedoch teils nachweislich weit auseinander. Auch die Verhandlungen zur deutschen Einheit blieben bis zu ihrem Ende von dem hartnäckigen Bemühen ostdeutscher Akteure geprägt, wenigstens einige der u.a. an den Runden Tischen entwickelten ökologischen und basisdemokratischen Vorschläge und soziale Aspekte der DDR in ein vereintes Deutschland einzubringen. Der Wunsch nach Eigenständigkeit der neuen DDR-Regierung, ihr „idealistischer Grundton“ – wie es in einer Notiz des Bundeskanzleramts heißt -, ihr Streben nach einer „gerechten internationalen Wirtschaftsordnung“ stießen bei der Bundesregierung weder auf Gegenliebe noch auf nennenswerten Verhandlungsspielraum.

Während die Volkskammer am 20. September 1990 im Palast der Republik den Einigungsvertrag annahm, versammelten sich draußen Bürgerrechtler an einem Runden Tisch, bestehend aus einer Kabeltrommel der von Entlassungen bedrohten Kabelwerke Oberschöneweide.* Am 3. Oktober luden bürgerbewegte Gruppen zum Protest gegen den neuen Visumszwang an die polnische Grenze. Am 4. November forderte ein „Runder Tisch von Unten“, die politische Selbstermächtigung der Bürgerinnen von 1989 nun auch als eine soziale und wirtschaftliche umzusetzen. Als Ende November die Polizei in der Mainzer Straße einrückte, stellten sich Bürgerrechtler, darunter Bärbel Bohley, in den Weg der Wasserwerfer. Aber selbst mit dem politischen Kapital ihrer Namen konnten sie die Räumung der besetzten Häuser nicht verhindern.

Dennoch wirkte der Impuls der revolutionären Selbstermächtigung noch lange fort, nachdem die Politik den demokratischen Gestaltunganspruch der Ostdeutschen mit dem Treuhandgewordenen Credo des „wirtschaftlichen Sachzwangs“ für obsolet erklärt hatte. Der Wunsch über die eigene Zukunft selbst zu entscheiden manifestierte sich in den über 1000 Anti-Treuhand-Protesten, Streiks und Betriebsbesetzungen der frühen 1990er Jahre, ebenso wie in den 1991 zunächst gegen Betriebsschließungen und 2004 gegen die Hartz-IV-Gesetze wieder aufgenommenen ostdeutschen Montagsdemos.

Nachdem die Geschichte von 1989/90 aber einmal als Erfolgsstory von Mauerfall und Wiedervereinigung festgeschrieben worden war, waren diese Momente nicht mehr als Fortsetzung einer 1989 begonnenen emanzipativen Bewegung zu erkennen. Aus dem kollektiven Bewusstsein Ost wie West sind sie seither so gründlich verschwunden, dass der Rechtsruck Ostdeutschlands heute oft ausgerechnet mit einer „Demokratieunfähigkeit“ der Ostdeutschen erklärt wird.

Für die Erfahrung der Selbstermächtigung, die Erinnerung an das Uneingelöste der Revolution von 1989/90, fehlt uns heute die Sprache. Wir, die diese Revolution erlebt und mit getragen haben, nennen unsere damaligen Vorstellungen „naiv“, jede Hoffnung, etwas anderes als die Geschichte, wie sie dann eintrat und gemacht wurde, sei möglich gewesen, scheint uns „utopisch“. Als Künstlerin suche ich diese, auch meine Erfahrung von 1989 jenseits etablierter Erzählmuster z.B. in Dokumenten aus jener Zeit, die ihre eigene Sprachlichkeit in sich tragen. Ich suche sie auch in den Körpern der Menschen, in denen die Erfahrung des Herbstes 1989 unter den auf sie hinaufgeschichteten Erzählungen archiviert ist: als eine freudige Erregung, ein Aufleuchten der Augen, das sich beim Erinnern Bahn bricht. Auch wenn unsere Begriffe des politisch Möglichen keine Worte für sie bereithalten, wissen unsere Körper, dass eine andere mögliche Zukunft auf den Straßen, in den Versammlungen, an den Runden Tischen 1989/90 bereits ein Stück Realität angenommen hatte.

Mit dem Festival „Palast der Republik“, bei dem ich als Kuratorin mitwirke, möchten die Berliner Festspiele nun eine Revision und Ergänzung des Erzählens über 1989/90 anregen. Wir wollen mit damals Beteiligten über ihre Visionen eines gemeinsam organisierten Zusammenlebens sprechen. Warum und wie fokussierten diese genau jene Fragen – der Ökologie, der radikalen Demokratisierung, der sozialen und globalen Gerechtigkeit –, welche die ab 1990 neu formierte Gesellschaft heute am deutlichsten herausfordern? Wir wollen, gemeinsam mit internationalen Künstlern, Theoretikerinnen, Aktivisten einen politischen Erfahrungsschatz heben, der in der Erzählung von Mauerfall und Wiedervereinigung verschwindet – den wir 2019 aber gut brauchen können. Die Revolution von 1989/90 hat gerade erst begonnen.”

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*Nachtrag nach Veröffentlichung: Judith Braband, die mir diese wunderbare Geschichte erzählt hat, konnte den Runden Tisch vor der Volkskammer inzwischen anhand ihrer Unterlagen noch genauer – und anders – datieren: Er fand am 21.6.1990 statt.

Ich sehe, wie du mich (nicht) siehst.

Es ist mir in den letzten Jahren in Berlin ein paar mal passiert, dass mich britische oder amerikanische Touristinnen, die mich auf der Suche nach irgendetwas ansprachen, als Einheimische einordneten und sogleich nicht mehr hörten.

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“I don’t feel welcome, I feel at home.” Foto von Daniel Blochwitz

Sie hörten wohl, dass ich Englisch mit ihnen sprach und sie hörten wohl auch, was ich ihnen sagte, und mussten gemerkt haben, dass sie, was ich ihnen sagte, gut verstanden. Und doch antworteten sie mir in einfachstem Englisch, sich stets vergewissernd, dass ich ihnen folgen konnte; im Zweifel ließen sie auf ein vermeintlich zu kompliziertes Wort noch eine einfachere Umschreibung folgen. Sie sprachen langsam, sehr laut, und deutlich.

Sie hörten nicht, was man hätte hören können: dass ich die englische Sprache seit vielen Jahren als adoptierte zweite Muttersprache spreche,
 eine Zeit lang auch als erste. Sie hörten mich nicht mehr, nachdem sie mich eingeordnet hatten, als nicht-Britin, nicht-Amerikanerin, kurz als Aus-, oder besser, ihnen fremde Inländerin – der die andere Sprache fremd sein musste.
Sie haben mich darin mit sich selbst verwechselt.

Ich bin mir sicher, obwohl ich es nicht überprüfen konnte, dass dieses Menschen waren, die nie im Leben eine zweite Sprache gelernt hatten, die bestenfalls vor vielen Jahren an einem Grundlagenkurs Französisch an der High School oder auf dem College gescheitert waren, erstarrt vor der schieren Unmöglichkeit, der unglaublichen Anmaßung, dass eine andere Sprache für jemanden, der nicht in sie hineingeboren worden war, überhaupt jemals zu begreifen sein könnte. Als ich in den 1980ern in der DDR aufwuchs, gab es so eine Ehrfurcht vor dem Englischen. „Wie man das th korrekt ausspricht, wird man, wenn man die Sprache nicht von Kind auf spricht, niemals lernen. Das schafft die erwachsene Anatomie nicht mehr. Ist der Mund einmal geformt, kann er die fremde Phonetik nicht mehr nachahmen.“

Als mich die Verhältnisse in den frühen 1990ern im neu zusammengeschlossenen Deutschland zu einer vermeintlichen Inländerin machten, erlebte ich Ähnliches, nur auf der Ebene des Sprechens, statt der Sprache.

Die Art und Weise, wie der Westen damals den Osten – quasi rückstandslos – in sich hineinzupassen gedachte, unterscheidet sich, denke ich, nur unwesentlich davon, wie  den heutigen Neuankömmlingen begegnet wird. Nur scheint mir heute eine überhebliche Forderung damit verbunden. Damals war es ein überheblicher Großmut.

Man schenkte den Ostlern, sie in den Westen und in sein Sprechen aufzunehmen. Ihre Gegenleistung war nicht, ein Sprechen aufzugeben, an dem sie möglicherweise hätten festhalten wollen. Ihre Gegenleistung war, dass sie qua ihres vermeintlich enthusiastischen Ankommens im Westen schon bewiesen hatten, dass sie ihr Sprechen abzulegen nicht nur bereit waren, sondern, anstelle eines eigenen Sprechens prinzipiell nur eine Leerstelle besaßen, oder bestenfalls etwas, über dessen fundamentale Nutzlosigkeit sie sich mit ihren Gastgebern, den Inländern, bereits im Einvernehmen befanden. Von diesen Neuankömmlingen war kein Widerstand zu erwarten, sondern ein dankbares und williges sich Einfügen.

Boris Buden beschreibt in Zone des Übergangs wie sich die Westler am 9. November 1989 an der Euphorie der Ostler beim Überqueren der Mauer berauschen. Im Glück der Ostler beim Anblick des Westens, erkannten sie einen Glauben an das Versprechen des eigenen Systems, der ihnen selbst seit langem fehlte. In den Blicken der Neuankommenden von heute erblickt der Westen keine Bewunderung, sondern Begehren: den unbedingten Willen, Dinge an sich zu reißen, von denen man selbst immer schon zu wenig hat.

Der Osten war damals gerade durch die Euphorie einer Revolution gegangen. Er hatte eine Art des Sprechens, die Jahrzehnte zuvor mit einem Versprechen einhergegangen war, mit ihrer Glaubwürdigkeit auch jeden Anschein von Natürlichkeit verlieren sehen. Zwischen den Zeilen lesen, eine doppelte Sprache sprechen waren die Soft Skills eines Ostens, in dem die Sprache und das Sprechen im Herbst 1989 schließlich zum Medium und Schauplatz einer unerhörten, kurzzeitigen Selbstermächtigung geworden waren. Mit diesen Erfahrungen kamen die Ostler in den Westen.

Bei meiner ersten Westreise erklärte ein Westverwandter, wie dreist es von den schwarzen Südafrikanern sei, sich plötzlich selber regieren zu wollen. („…gerade erst aus dem Busch gekommen“) Der Verwandte war Manager bei einem Elektronikkonzern in Braunschweig und seine Wände waren mit den Fellen und Köpfen der Keiler behangen, die er in seiner Freizeit selbst erlegt hatte. Bei meiner zweiten Westreise saßen wir bei Freunden der Familie in Düsseldorf am Fernseher und sahen zu, wie die Rumänen die Ceaușescus exekutierten. Danach gingen wir bei einem Ausflug nach Bonn am Bundestag spazieren. Alles sah exakt so aus, wie wir es aus den Westnachrichten kannten. Die dritte Reise war eine Klassenfahrt nach Bamberg, auf Einladung des Lion’s Clubs. Der Vorstand der örtlichen Sparkasse berichtete uns von den Vorzügen der firmeneigenen Sozialversorgung. Das ganze Dutzend Herren vom Vorstand war vor den Kopf gestoßen, als eine von uns fragte, warum es denn im Vorstand keine Frauen gäbe. Das war die Zeit, in der wir in der Schule mit unseren Lehrern darüber redeten, aus welchen Gründen sie in die Partei eingetreten waren, und ob es besser sei, nun konsequenterweise in selbiger zu bleiben oder aus ihr auszutreten. Und ob sie meinten, damit Schuld auf sich geladen zu haben. Und wie man mit dieser einen Umgang finden könnte. Der neue, westdeutsche Bürgermeister lud unsere Klasse zu einem Sektempfang ins Rathaus ein, zur Eröffnung einer Ausstellung, die uns auf Bildtafeln erklärte, warum rote und braune Diktatur im Grunde genau das Gleiche seien. Wir nahmen den Sekt und fuhren Paternoster. Der Westen war uns nicht fremd. Er kam uns nur befremdlich vor.

Wenn man als Fremde in etwas ankommt, dass sich als das Normale, das Natürliche setzt, weil es seine eigene Normalität niemals in Frage stellen gemusst hat, ist man im Vorteil. Man kann sehen, wie man als das Andere gesehen wird und wie dieses Anderssein beim Inländer nie das eigene Anderssein, sondern immer nur das eigene Normalsein ins Bewusstsein ruft. Nicht die Kontingenz, sondern das vollständige Einssein mit der Muttersprache. Man sieht, wie das Gegenüber einen nicht sieht, und wie das Gegenüber nicht sieht, dass man auch dieses Nicht-gesehen-Werden sehen kann, und verstehen. Für den Neuankömmling, sind die Inländer unschuldig und transparent wie Kinder. Die „Unschuld in den Gesichtern der Passanten westdeutscher Fußgänger­zonen“, hieß das in etwa bei Heiner Müller.

 

 


Dieser Text ist auf Einladung des wunderbaren Projekts „Man schenkt keinen Hund“* enstanden, das Unterrichsmaterialien der Deutschkurse für Migrant*innen auf die dort vermittelten Integrationskonzepte befragt. „Man schenkt keinen Hund“ (Christine Lemke in Kollaboration mit Scriptings) versucht über unterschiedliche Zugänge und künstlerische / theoretische Strategien die identitären Diskurse um das Konzept „Integration“ zu befragen und diese hinsichtlich ihrer Ausprägungen in der inhaltlichen, ikonographischen und pädagogischen Gestaltung der Lehrmaterialien für Integrationskurse zu untersuchen. Der Reader zum Projekt, in dem auch mein Text enthalten sein wird, erscheint im Herbst 2018.

Mehr Infos: http://www.scriptings.net/index.php/man-schenkt-keinen-hund/about/

 

“Das Verhängnis einer unvollendeten Revolution”

Was mich an dem Titel des Artikels von Frank Richter zunächst hat aufmerken und hoffen lassen hat, ist dass mit der Anerkennung der Nicht-Vollendung (und damit, diese als Verhängnis zu beschreiben) im Prinzip schon ein erster Schritt getan wäre. Zu sagen: es gibt aus dieser Revolution etwas Uneingelöstes, das zu besprechen wäre.

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Ich glaube durchaus, dass sich aus einem wirklichen Zurückgehen zu 1989/90, und einem Abklopfen dessen, was daraus (seltsamerweise?) immer noch relevant scheint, schon recht konkrete politische Schlüsse ziehen lassen könnten, die uns ein Stück weiter bringen würden. Und dass gleichzeitig ein solches Zurückgehen und Ernstnehmen dieser Geschichte selbst bereits jene Wirkung hätte, nach der der Autor, glaube ich, sucht, nämlich des gehört und gesehen Werdens. Insofern ist es schade, dass der Artikel (das Buch?) dann den Gedanken selbst nicht wirklich ernst nimmt, sondern stattdessen die Mythologisierung der Demokratie-Unfähigkeit des (post-)DDR-Bürgers fröhlich weiter voranschreibt. Eine Revolution sind die Ereignisse von 1989 geworden, als die “Minderheitenposition” der Bürgerbewegten von der nötigen kritischen Masse an Menschen mitgetragen bzw. angeeignet wurde. Eine Revolution wird nicht – wie es in Richters Text heißt – von “Minderheiten vollzogen” (dann wäre sie ein Putsch, ein Coup d’etat gewesen). Warum sich die Mehrheiten nach dem 9. November wieder von den Minderheiten lösten, die die Revolution als eine wirkliche politische Ermächtigung zu gestalten angetreten waren, wäre die interessantere Frage, ebenso wie die, ob und wie dieser Impuls der Revolution möglicherweise auch dort noch weiterwirkte, wo parlamentarische Mehrheitsverhältnisse dieses Weiterwirken unsichtbar machten. Vielleicht waren mit den Bürgerbewegungen nicht gleich auch alle Ideen und Impulse der Revolution abgewählt, möglicherweise lebten sie nur in Formen fort, die sich mit den Mitteln der repräsentativen Demokratie nicht abbilden ließen. Ich denke z.B. an das Fortdauern einer weit jenseits der Minderheit der Bürgerbewegungen 1989 gelebten revolutionären Anmaßung, die Formen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens selbst zu bestimmen – die z.B. in den betrieblichen Kämpfen der frühen 1990er durchaus auch immer wieder gegen die neue Ideologie der vermeintlichen wirtschaftlichen Alternativlosigkeit und der Allmacht und Weisheit des Marktes behauptet wurde. Auch diese Kämpfe waren im Osten durchaus keine Minderheitenphänomene, sie wurden vom medialen und gesellschaftlichen Mainstream nur einfach nicht oder kaum – vor allem nicht als Nachwirkungen der Revolution –wahrgenommen. Ich denke, an diesen Stellen könnte eine “Aufarbeitung” der (Nach)wendezeit produktiv werden. In Form einer Politisierung der Geschichtsschreibung: der Anwendung der revolutionären Anmaßung von 1989 auf das Heute.


Ein Kommentar zu Auszügen aus Frank Richters Buch “Hört endlich zu!”, erschienen am 9. März 2018 auf Krautreporter.de.

Empfehlung Webprojekt “Ausländer in der DDR”

“Zur deutschen Einheit am 3. Oktober wurden die bescheidenen Versuche der neuen und letzten DDR-Regierung von gezielter Einwanderung und menschenwürdigem Asyl zunächst gestoppt. Was die am Runden Tisch ins Leben gerufenen Ausländerbeauftragten, die couragierten Bürger, kritischen Publizisten, Gewerkschafter und Verbände 1990 unternommen haben, um erneute Abschottung zu verhindern, versucht dieses Projekt zu dokumentieren.

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Was ist aus den Ausländerinnen und Ausländern geworden, die wieder zurückflogen? Haben unsere Forderungen von damals die Welt von heute beeinflusst? Sind die Roma auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg im Mai 1990 und die Flüchtlinge vor Lampedusa Teil einer Geschichte der Festung Europa?

Wir möchten über die Reflexion einer Umbruchzeit den Spuren ins heute folgen.

Es ist Klaus Pritzkuleits Idee und Vermächtnis, eine Form gemeinsamen Erinnerns zu finden, die spannende kurze Umbruchzeit 1989/90 festzuhalten und die vielen Schicksale von betroffenen und engagierten Menschen nicht zu vergessen.”

Auf diese unglaublich tolle und umfassende Online-Ressource zur Geschichte der Gastarbeiter*innen in der DDR und (Nach-)wendezeit bin ich gerade in meinen Recherchen zu 1990 gestoßen, sie sei hiermit begeistert in die interessierte Runde gegeben und wärmstens empfohlen:

https://www.auslaender-in-der-ddr.com 

Inviting Utopia, Reading

You are cordially invited to “Inviting Utopia: Radical dreams and practices in and beyond the 1989 revolution” – a reading with Max Hertzberg, author of the East Berlin Series, and myself:

18th Jan 2018, Buchhafen
Okerstr. 1, Berlin (Neukölln), 8 pm ( in English).

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Max will read from his trilogy of political fiction set in a counter-factual post-1990 GDR and talk about how he saw a grassroots democracy as a real possibility. I will be reading from the prelude of my forthcoming book A Vocabulary of Revolutionary Gestures which sketches the radical scope of the practices and projections of the 1989 revolution. (in English)
https://buchhafen-berlin.de/en/category/events/

You can find more on Max’s fantastic East Berlin Series here: www.maxhertzberg.co.uk

Max’s background articles on the revolution of 1989/90 are to my mind the best comprehensive summary of the events in English and are highly recommended:
http://www.maxhertzberg.co.uk/articles#content 

“Der Fall Monika Haeger”

In der RBB Mediathek kann man momentan diese sensible und umsichtige Dokumentation von Peter Wensierski mit und zu seinem Interview mit der IMS Monika Haeger von 1990 anschauen. Mir scheint, dass es für diese Art Gespräche 1990 ein kurzes Zeitfenster gab, dass sich dann rasch wieder schloss, auch weil sich die Fronten verhärteten und die Narrative konsolidierten. Vielleicht ist die Ausstrahlung 27 Jahre später auch ein Zeichen dafür, dass da wieder etwas in Bewegung geraten (sein) könnte.

“Zur Verfassung” – Berliner Hefte #5

Am 23. November 2017 erscheint unsere Publikation: Zur Verfassung – Recherchen, Dokumente 1989-2017, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #5 (Elske Rosenfeld, Kerstin Meyer, Joerg Franzbecker).

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Wir freuen uns, das Heft am 

25.11.2017, 18 Uhr
im Maxim Gorki Theater/ Herbstsalon
Palais am Festungsgraben
Am Festungsgraben 1, Berlin

vorstellen zu können.

Zum Heft:

1990 galt in Ost-Berlin für ein halbes Jahr eine Verfassung, die weitreichende politische Bürgerrechte enthielt. Diese waren aus den Erfahrungen der Revolution 1989 von den Bürgerbewegungen und der Opposition am Zentralen Runden Tisch der DDR formuliert worden. Die Verankerung der erweiterten politischen Rechte in der gemeinsamen Landesverfassung scheiterte jedoch im ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhaus – einzig die Volksgesetzgebung wurde übernommen. Damit ist es in Berlin möglich, Gesetze durch Volksentscheid und ohne das Parlament direkt zu beschließen. Das gelang bisher mit den Volksentscheiden zur Offenlegung der Wasserverträge und zum Erhalt des Tempelhofer Feldes. Für letzteren stimmte im Mai 2014 eine Mehrheit in allen Bezirken. Dennoch versuchten die Regierungsparteien, das Tempelhofer Feld-Gesetz wieder zu kippen. In Reaktion darauf wurde 2016 das Volksbegehren Volksentscheid Retten eingeleitet, um die Volksgesetzgebung in der Verfassung zu stärken. Beide Vorgänge, 1989/90 und 2016, hatten zum Ziel, dass alle Berliner*innen an der Ausgestaltung der Verfassung teilhaben können. Sie bilden die Klammer für erschienene Heft.

Zur Verfassung – Recherchen, Dokumente 1989–2017 wurde von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gefördert.

Die Publikation ist die dritte von drei Berliner Heften, die im Rahmen des nGbK-Projektes Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? Beiträge zum Berliner Wahlherbst 2016 entstehen.

96 Seiten, mit einer Bildstrecke von Elske Rosenfeld aus Videostills von Klaus Freymuth
Elske Rosenfeld, Kerstin Meyer, Joerg Franzbecker (Hg.),
November 2017
7€
ISBN 978-3-946674-04-7

Erhältlich über www.bookspeopleplaces.com, www.ngbk.de und den Buchhandel 

“Standing Still”

My text “A Vocabulary of Revolutionary Gestures: Standing Still” has been published in Feminist Media Studies. Volume 17, 2017 – Issue 4: Affective Encounters: Tools of Interruption for Activist Media Practices. Contact me, if you would like a copy. 

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Zur “Causa Holm”, Gespräch am 29.1.2017

Audio: Diskussion „Eine unlautere Debatte“ – Wolfhard Pröhl und Peter Neumann zur Debatte um Andrej Holm // vom 29.01.2017

> Link zum Audiomitschnitt unseres Zeitzeugengesprächs mit Wolfhard Pröhl und Peter Neumann im besetzten Institut für Sozialwissenschaften an der HU (mit Kerstin Meyer und Enrico Schönberg)

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Beide waren beteiligt an der Auflösung von Stasi-Strukturen 1989/90 und in der Nachwendezeit. Peter Neumann war Mitglied der Projektgruppe zur Stasi-Auflösung in der Verwaltung für Inneres in Berlin und Wolfhard Pröhl beteiligte sich an der Stasi-Auflösung in Dresden. Beide positionierten sich sehr eindeutig in der Debatte um Andrej Holm. In der Veranstaltung vom 29.01.2017 beschreiben sie den Umgang mit Stasimitarbeitern und IMs zum Ende der DDR und erklären, warum es ihnen in der aktuellen Debatte so leicht fällt, für Andrej Holm Position zu beziehen.