Post-DDR-Geschichte wird gemacht

Ende Dezember 2020 habe ich bei Fazit im Deutschlandfunk Kultur mit Vladimir Balzer über das geplanten „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ gesprochen. Ich habe dazu im Nachgang noch ein paar ausführlichere Gedanken formuliert – weil mir eine kritische Debatte zu der geplanten erneuten Institutionalisierung der post-DDR-Aufarbeitung sehr wichtig erscheint. Der Text ist jetzt im Freitag erschienen:

Im April 2019 fiel dem deutschen Innenminister Horst Seehofer ein, dass 2020 das 30. Jubiläum der Wiedervereinigung anstand. Kurzfristig wurden 61 Millionen Euro mittels eines Mechanismus bereitgestellt, der normalerweise Naturkatastrophen und anderen Unvorhersehbarkeiten vorbehalten ist.

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Die rasch zusammengestellte Expertenkommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit – in der übrigens keine (!) einzige (!) nicht-biodeutsche Person zu finden ist – nahm wenig später die Arbeit auf. Diese schloss ihre Arbeit Anfang Dezember 2020 aber, auch Dank Corona, nicht mit den üblichen Feierlichkeiten, sondern mit einem Thesenpapier ab, das sich als ein Bericht zum Stand der Einheit und als Handlungsempfehlung versteht.

Kernstück der Vorschläge ist die Erschaffung eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, möglichst in einem zukunftsweisenden Gebäude, möglichst in der ostdeutschen Provinz. So ein Zentrum solle die Lebensleistung und Umbruchserfahrung der Ostdeutschen würdigen und nutzbar machen für kommende Transformationsprozesse. Das wäre sicher ein Schritt nach vorn. Die Lebensläufe der Ostdeutschen galten im vereinigten Deutschland bislang vor allem als defizitär. Lebensleistung im Osten vor 1989 galt als verdächtig, nach 1990 bestand sie vor allem in einer möglichst reibungslosen Anpassung an das neue System. Ein Perspektivwechsel wäre hier überfällig. Möglich, dass so ein Zentrum ihn leisten will. Doch was würde ein solcher bedeuten und wie könnte eine Institution aussehen, die ihn tatsächlich leisten kann? Die Blickrichtung wechseln hieße, die Erfahrungen des Lebens in der DDR und in der Revolutions- und Transformationszeit nicht nur als Objekt der Beforschung, sondern als Ausgangspunkt einer Befragung des Westens und des neoliberalen Heute zu nehmen – auf seine Widersprüche, sein permanentes soziales, demokratisches, ökologisches Scheitern hin. Es hieße auch, sich dem zuzuwenden, was aus dem Umbruch von 1989/90 an uneingelösten Versprechen und vergessenen emanzipatorischen Praxen liegengeblieben ist. Das ist an erster Stelle die radikale demokratische Selbstermächtigung der ostdeutschen Revolutionärinnen – weit über westliche repräsentative Formen der Demokratie hinaus. Das sind auch die Vorschläge der Runden Tische für eine ökologische Neugestaltung der Wirtschaft, für eine gerechtere globale Ordnung, für die in der DDR behauptete, aber nicht erzielte Geschlechtergerechtigkeit. All dies waren Transformationsvorschläge, die in dem dann vornehmlich von westdeutschen konservativen und neoliberalen Akteurinnen gestalteten Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben sind. Viele von ihnen erscheinen 30 Jahre später so hellsichtig wie aktuell.

Die Transformationsleistung der post-DDR-Bürgerinnen fand ab 1990 also unter dem Vorzeichen nicht nur des Verlustes der politischen, kulturellen und sozialen Koordinaten ihres bisherigen Lebens statt, sondern auch jenes Möglichkeitsraums, den sie sich im Herbst und Winter 1989/90 erkämpft hatten. Stattdessen wurde der Osten mittels der Treuhandanstalt zu einem Labor der anderen Art: einer in Geschwindigkeit und Umfang in Europa einzigartigen Privatisierung und Liquidation einer Volkswirtschaft. Die ostdeutsche Transformationsgeschichte ist deshalb auch eine des Protests. Die Treuhand-Doku „Rohwedder“ rief die mit diesen vergessenen Kämpfen verbundene westdeutsche Angst vor einer „zweiten Revolution“ im Osten vor kurzem eindrucksvoll in Erinnerung. Die Revolution von 1989/90 endete also – nicht immer friedlich – in der als alternativlos kommunizierten Verheerung tausender Arbeitsbiographien und der Niederschlagung jedes Dissens’. Für eine Aufarbeitung in dem geplanten Zentrum wirft all dies Fragen an das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie auf, auf die das Bild des vermeintlich so demokratieunfähigen Ossis nicht nur die falsche, sondern überhaupt keine Antwort ist. Die Fragen anders zu stellen, wäre der Punkt. Transformationsgeschichte, wie im Titel des geplanten Zentrums angedeutet, (ost)europäisch zu denken, wäre sicher ein Beitrag hierzu. Die post-sozialistische Transformation lässt sich innerhalb einer transnationalen osteuropäischen Geschichte, in der sich durchaus erfolgreichere Alternativen zur deutschen Treuhandpolitik finden lassen, besser verstehen.

Aber auch die deutsche Transformationsgeschichte ist weder rein ost- noch rein biodeutsch. Eine vergleichbare Neuorganisation ihrer durch Deindustrialisierung, Liberalisierung und Sozialrückbau zunehmend präkarisierten Leben wurde wenig später auch Bergarbeitern und Stahlwerkerinnen im Ruhrpott und anderswo abverlangt. Und auch Migrantinnen und nicht-Biodeutsche, wie jene, die der Einigungsvertrag aus bilateralen Abkommen der DDR mit Mosambik, Vietnam und Angola in die Ungewissheit entließ, bauten sich neue Leben auf. Nur taten sie dies noch dazu unter den gewaltvollen Bedingungen eines grassierenden Rassismus und Neofaschismus, der von dem mit der Einheit verbundenen Aufschwung des Nationalen ermöglicht und befördert worden war.

 Hier zeigt sich ein zentrales Problem eines Handlungskonzeptes, dem sein ursprünglicher Auftrag, das nationale Projekt Deutsche Einheit vor allem zu feiern noch überdeutlich anzumerken ist. Einige Vorschläge – Freifahrtscheine für Menschen in Nationalfarben am 3. Oktober, Deutschlandfähnchen für Oberschülerinnen – klingen in Zeiten von Pegida gruselig und, für diejenigen, die sich noch an die DDR erinnern, auf groteske Weise vertraut.

All das wirft im Bezug auf das vorgeschlagene Zentrum eine weitere, über das inhaltliche hinausgehende, Frage auf: Was hieße es, wenn eine staatlicherseits in größerem Umfang bereitgestellte Förderung von Forschung und Austausch an die im Bericht skizzierte zentrale Institution und deren vorgegebenen Auftrag gebunden würde? Ein solches an eine staatlich vorgegebene Setzung geknüpftes Erinnerungsprojekt gibt es im Bezug auf die DDR-Geschichte bereits. Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde 1998, ebenfalls aufgrund der Empfehlungen zweier von der Bundesregierung eingesetzter Enquete-Kommissionen, gegründet. Sie stellt seither Gelder zur Erforschung der DDR-Geschichte bereit, bindet diese aber auch an die Lesart, die ihr bereits im Namen eingeschrieben ist. Thomas Klein hat kürzlich im telegraph beschrieben, wie kleinere, nicht-staatliche Akteure der Aufarbeitung, die andere Ansätze der Historisierung verfolgen hätten können und auch wollen, sich in entweder in Antizipiation „der Erwartungen der fördernden Einrichtung“ oder unter politischem Druck, den Vorgaben dieses wichtigsten Geldgebers beugten. Was in diesem Rahmen nicht erzählt werden konnte, fiel in den letzten drei Jahrzehnten folglich, statt einer differenzierten Aufarbeitung, einer ostalgischen Schattenerzählung eines „Es war doch nicht alles schlecht“ anheim.

Wenn der Staat nun also für eine Aufarbeitung der Transformationsgeschichte/n Geld in die Hand zu nehmen bereit ist – was er dringend sollte –, wäre es wichtig, dass er die Vergabe desselben nicht erneut über politische und begriffliche Vorgaben in bestimmte Richtungen zwängt und andere verschließt. Die Bewertung der deutschen Einheit und Transformation sollte hier nicht bereits, auf die im Bericht anklingende positive Weise Ausgangspunkt, sondern eher Inhalt und Ziel einer zu fördernden offenen und kritischen gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein. Um das zu erreichen, täte eine breite Debatte zur Ausrichtung bzw. eben gerade Offenheit der geplanten Einrichtung not. Der im Bericht formulierte Vorschlag, die Bundesregierung solle zur Ausgestaltung eines detaillierten Konzeptes, der Aufgaben und Ausrichtung des Zukunftszentrum “aus der Kommission heraus eine Arbeitsgruppe berufen”, klingt leider erst mal nicht danach. Parteilinie ick hör dir trapsen. Oder, wer das Geld verwaltet, setzt den Diskurs.