Un/sichtbar – wie die Karl-Marx-Allee über Kunst wieder lesbar wird

Dieser Text enstand für das Projekt Treffpunkt: Karl-Marx-Allee (Meet-up at Karl-Marx-Allee):

Im Wort unsichtbar ist das Wort sichtbar noch sichtbar. Deckt man das UN ab, tritt es hervor. Das Präfix negiert und erhält zugleich.

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1968 zeichnete der tschechoslowakische Künstler Július Koller in einer seiner künstlerischen Aktionen[1] die weißen Linien eines Tennisplatzes mit weißer Kreide noch einmal nach. Einmal aufgebracht, war seine Überschreibung unsichtbar. Und verdoppelte doch gleichzeitig den Raum, den sie bespielt. Mit der (unsichtbaren) künstlerischen Überschreibung wurde der alltägliche Ort Tennisplatz ein zweites Mal lesbar – als künstlerische Arbeit.

Das Thema Unsichtbarkeit durchzieht die Geschichte (ebenso wie die Nachgeschichte) des künstlerischen Untergrunds in Osteuropa, auch in der DDR. In vielen Kunstszenen, zum Beispiel in der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, war die buchstäbliche Nicht-Wahrnehmbarkeit ihrer im öffentlichen Raum durchgeführten Aktionen für viele Künstler:innen politische Strategie und künstlerisches Konzept zugleich. Auch Formen der Überaffirmation und des „Zwischen den Zeilen“-Arbeitens spielten mit der UNsichtbarkeit.

In der DDR waren hingegen die Praktiken der Performance- und Experimentalfilmkunst für den offiziellen Kunstbetrieb nicht als Kunst zu erkennen und einzuordnen, sie tauchten in den offiziellen Kunstausstellungen kaum auf. Aber auch Künstler:innen betrachteten ephemere Praktiken und künstlerisch vermittelte Formen des Zusammenseins oft nicht als Kunst, weil sie mit dem auch in nonkonformen Szenen lange eher traditionellen Kunstbegriff nicht zu fassen waren. 1990 entließ der Beitritt der DDR zur BRD die künstlerischen Praktiken aus der DDR in eine erneute, diesmal noch weniger strategische oder selbst gewählte Unsichtbarkeit: eine kulturelle Überschreibung, die Lesbarkeiten nicht doppelt, sondern die Dinge verschwinden lässt.

Auch DDR-Architekturen verschwanden nach 1990 an vielen Orten aus dem Stadtbild. Künstler:innen und Aktivist:innen der Nachwende haben dieses Verschwinden dokumentiert oder die verschwundenen oder vom Verschwinden bedrohten Architekturen mit Aktionen markiert oder in ihren Werken festgehalten. Die Karl-Marx-Allee – selbst eine Überschreibung früherer Architekturen, die man als nicht mehr zeitgemäß ansah – hat die Austragung und Überschreibung von DDR-Geschichte im Berliner Stadtraum ab 1990 überlebt.

Auf der Karl-Marx-Allee ist die DDR noch sichtbar – hypersichtbar – und doch gleichzeitig unsichtbar. Hiding in plain sight, wie man auf Englisch sagt: versteckt in der Hyper-Sichtbarkeit.

Die Straße und ihre Architekturen sind zu sehen, aber wer kann sie lesen und verstehen? Die westdeutsche Betrachterin sieht vielleicht eine Architektur, in der alle Grundrisse ähnlich sind, und schließt daraus, dass alle Bewohner:innen gleichgestellt sind. Die ostdeutsche Nachbarin weiß vielleicht, dass hier die DDR-Oberschicht wohnte, nicht unbedingt reicher als der Rest, aber allein schon qua ihrer Wohnung an diesem Ort privilegiert. Wer nimmt das repräsentative Projekt der DDR für bare Münze, wer weiß um die Konflikte und Richtungskämpfe, die es überdeckt? Wem sagen die Namen der Menschen, die hier lebten, auch aus den kulturellen Eliten der DDR, heute noch etwas? Es braucht Vermittlung, damit die Straße sprechen kann; gibt es die vermittelnde Stimme nicht mehr, bleibt die Straße stumm.

Im Projekt Treffpunkt: Karl-Marx-Allee übernehmen drei Künstlerinnen diese vermittelnde Sorgearbeit. Die Karl-Marx-Allee ist also so etwas wie die Umkehrung von Kollers überschriebenem Tennisplatz: ein Ort, der einer künstlerischen Markierung bedarf, damit er wieder in seinen ursprünglichen Bedeutungsebenen lesbar wird.

Die drei Arbeiten des Projekts spielen dabei selbst mit Formaten der UNsichtbarkeit: der Spaziergang, die Projektion, die Performance, die temporäre Installation sind kurz zu sehen und leben danach – als mit den Orten verbundene Erinnerungen – nur für die Dabeigewesenen fort.

Ingeborg Lockemann beschäftigt sich in ihrer Arbeit Hier, Berolinastraße! mit einer besonderen Form der Unsichtbarkeit – jener von lesbischen Frauen in der DDR. So wählten Frauen in der DDR in ihren verklausulierten Kontaktanzeigen alltägliche Begriffe, die sie mit doppelten Bedeutungen belegten und die nur für Eingeweihte zu entschlüsseln waren. Die Schriftobjekte aus Acryl, die Ingeborg Lockemann aus diesen Begriffen gefertigt hat, sind ebenfalls durchsichtig, dezent, versteckt – zwar sichtbar, aber vielleicht für Uneingeweihte leicht zu übersehen. Michaela Schweiger holt mit Wir, 2021 in den Vordergrund, was sonst im Verborgenen bleibt: Wenn Anwohner:innen nach Entwürfen aus der 1956 in der DDR gegründeten und 1995 eingestellten Zeitschrift für Mode und Kultur Sibylle Kleidungsstücke nähen lassen, bei denen ihre Miete in Arbeitsstunden umgerechnet wird, werden die normalerweise unsichtbaren materiellen Verhältnisse ausgestellt: Was kostet das Wohnen, wie viel ist die Arbeitszeit wert? Die Figur der Babette im Rosengarten spaziert in der von Inken Reinert konzipierten Performance durch die Stadtlandschaft, lässt Geschichte aufscheinen, verschwindet dann wieder. Nur die um die Protagonistin aufgestellten Rosenstöcke, Requisiten, die kurzzeitig Kunst werden, bleiben. An Nachbar:innen verschenkt, werden sie wieder Rosenstöcke, rückgeführt ins alltägliche Leben, minus der Kunst.